Mangel an Lehrkräften
Ein politischer Torso
Der Lehrkräftemangel ist hausgemacht. Mit Mehrarbeit und zusätzlichen Belastungen sollen Lehrerinnen und Lehrer nun für die jahrzehntelangen Versäumnisse und Fehlplanungen der Länder büßen. Der Sturm der Entrüstung ist zu Recht groß.
Mehr Unterrichts-Pflichtstunden für Lehrkräfte, größere Klassen, weniger Möglichkeiten, Teilzeit zu wählen, und das Werben bei pensionierten Pädagoginnen und Pädagogen, über ihre Altersgrenze hinaus zu arbeiten – all das sind Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK), um den akuten Lehrkräftemangel in Deutschland zu bekämpfen. Zudem sollten überzählige Gymnasiallehrerinnen und -lehrer an die besonders vom Mangel betroffenen Grundschulen abgeordnet werden können. Wer fragt hier noch nach Qualifikation und Vorbereitung?
Was ist die SWK? Das sind 16 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, überwiegend aus der Bildungsforschung und Fachdidaktik. Die SWK soll die KMK beraten, sie ist ein reines Gremium der Länder. Kritikerinnen und Kritiker sprechen deshalb von einem politischen Torso, übriggeblieben aus der zunächst vielversprechenden Reformdebatte um die Neuauflage eines gemeinsamen Bildungsrates von Bund und Ländern. In der vergangenen Bundestags-Wahlperiode (2017 bis 2021) hatten sich CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag auf die Gründung eines neuen Bildungsrates nach Vorbild des Wissenschaftsrates verständigt – mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Politik sowie erfahrenen Verwaltungsleuten.
Doch die Regierungschefs von Bayern und Baden-Württemberg, Markus Söder (CSU) und Winfried Kretschmann (Grüne), torpedierten das Vorhaben. Die damalige Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) war politisch zu schwach, um den Widerstand der Länder zu brechen – obwohl sie während ihrer Amtszeit mit der Fortschreibung gleich mehrerer milliardenschwerer Bildungsprogramme des Bundes zur Unterstützung der Länder ein gewaltiges Druckmittel in der Hand hatte.
Auch der Deutsche Bildungsrat scheiterte am Föderalismus
Folge: Die Länder fordern weiter und weiter immer mehr Geld vom Bund – für Digitalisierung, Umsetzung der Inklusion, mehr Ganztagsschulen und jetzt für die Sanierung der seit Jahrzehnten verfallenden maroden Schulbauten. Laut Verfassung sind die Schulen originäre Aufgabe der Länder. Doch wenn es ums Geld geht, pfeifen die Länder auf ihre ansonsten stets beschworene Kulturhoheit. Der Bund soll zahlen, mitreden darf er aber nicht.
Der legendäre Deutsche Bildungsrat (1966 bis 1975) war breiter aufgestellt als die SWK. 14 Mitglieder wurden von den Ländern vorgeschlagen, vier vom Bund. Sie vertraten zugleich wichtige Interessengruppen wie Gewerkschaften, Wirtschaft und Kirche oder waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. In seiner Zeit verabschiedete das Gremium in die Zukunft weisende Empfehlungen, etwa den Ausbau frühkindlicher Bildung – heute immer noch akutes Thema, ein nicht vollendetes Reformprojekt. Auch der Deutsche Bildungsrat scheiterte letztlich am Föderalismus, an der parteipolitisch unterschiedlichen Ausrichtung der Länder und vor allem am Widerstand ihrer Finanzminister.
Hochschulen zu schwerfällig für schnelles Umsteuern
„Der Lehrermangel bedroht die Sicherstellung der Unterrichtsversorgung und beeinträchtigt die Qualität des Unterrichts“, stellt die SWK in ihren aktuellen Empfehlungen sehr richtig fest – jedoch leider ohne auf die Ursachen des nicht erst seit Beginn des Ukraine-Krieges vorhandenen Lehrkräftemangels und der vielen Unterrichtsausfälle einzugehen. Zu den Ursachen zählen unzulängliche und unterschiedliche Statistiken in den jeweiligen Landesbehörden für die bundesweite Bedarfsplanung, fehlende Berücksichtigung des Mehrbedarfs, etwa aufgrund des Ausbaus des Ganztags, der Inklusion oder der Einwanderung.
In den 1980er- und bis in die 1990er-Jahre hinein gab es im Westen Deutschlands eine hohe Lehrkräftearbeitslosigkeit, mitverursacht auch durch eine wenig vorausschauende Einstellungspolitik der Länder. Häufig bekamen nicht mal die jahrgangsbesten Absolventinnen und Absolventen eine Chance. In der Folge schrumpften die Studienkapazitäten der Erziehungswissenschaftlichen Fakultäten an den Hochschulen. Doch für ein schnelles internes Umsteuern von Ausbildungskapazitäten sind die Hochschulen viel zu schwerfällig. Und die Landesministerien sind wegen der in Mode gekommenen neoliberalen Wissenschaftsfreiheitsgesetze auch kaum noch in der Lage dazu.
Welches Bundesland greift nun als erstes öffentlich den Fehdehandschuh mit den Lehrerinnen- und Lehrerorganisationen in Sachen Mehrarbeit und Mehrbelastung auf? So betrachtet nutzt die KMK die von ihr bestellten SWK-Empfehlungen nur zur verbrämten Legitimierung ohnehin längst geplanter Mehrarbeit – jetzt mit dem Segen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sie beauftragt hat – jedoch ohne Mitwirkung der Betroffenen und ihrer Gewerkschaften. Das Dienst- und Besoldungsrecht ist seit der absurden Föderalismusreform von 2006 reine Ländersache.
Konzepte gibt es seit Jahrzehnten
Die SWK geht davon aus, dass der Lehrkräftemangel die nächsten zwei Jahrzehnte anhalten wird. Empfehlungen zur Lehrerinnen- und Lehrerausbildung und damit auch zu einer längerfristigen Bedarfsdeckung will das Gremium frühestens zum Jahresende vorlegen. Doch was ist dabei wirklich noch Neues zu erwarten? Seit fünf Jahrzehnten mangelt es wahrlich nicht an Vorschlägen für -Reformen und an neuen Konzepten der Lehrerinnen- und Lehrerbildung: entweder die altersgerechte, jahrgangsstufenbezogene und damit schulformübergreifende Ausbildung – oder wie in einigen Bundesländern immer noch üblich, jahrgangsübergreifend, aber rein schulformbezogen?
Dabei schwinden die Grenzen der klassischen Dreigliedrigkeit des Schulsystems immer mehr. Oder die „Polyvalente Lehrerausbildung“, die weniger Wert auf pädagogische Professionalität legt, um bei Absolventen-Überbedarf diese möglichst schnell in anderen Berufen unterzubringen? Oder der Ein-Fach-Lehrer mit nur einem Unterrichtsschwerpunkt? An Konzepten, wenn zum Teil auch konfus, hat es in der Vergangenheit wahrlich nicht gemangelt, eher am politischen Willen der Umsetzung.
GEW: „Zeugnis systemischen Versagens“
Etwas Positives hat der Streit doch gebracht. Nahezu alle angehenden Gymnasiallehrerinnen und -lehrer müssen heute mehr erziehungswissenschaftliche Anteile in ihrem Studium absolvieren. Aber dennoch: Wenn jetzt eine junge Gymnasiallehrerin oder ein junger Gymnasiallehrer – so die SWK-Empfehlung – auch in der 1. oder 2. Grundschulklasse ohne weitere Vorbereitung unterrichten soll, weiß man nicht so recht, wer einem mehr leidtun soll: die kleinen sechs- und siebenjährigen Schülerinnen und Schüler oder die Junglehrerin bzw. der Junglehrer.
In dem akuten Lehrkräftemangel sieht die GEW-Vorsitzende Maike Finnern ein „Zeugnis systemischen Versagens“, für das das SWK-Gutachten keine Lösungen anbietet. Unabhängige Forschung und die GEW hätten seit Jahren auf die Schönrechnerei der KMK hingewiesen. Doch passiert sei fast nichts. Auch deshalb hat die GEW 2022 ein 15-Punkte-Programm gegen den Lehrkräftemangel vorgelegt und der KMK Verhandlungen über ihre Vorschläge angeboten – jetzt wartet sie auf eine Antwort der KMK.