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Mangel an Lehrkräften

Ein Offenbarungseid der KMK

Mark Rackles, acht Jahre Staatssekretär der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft in Berlin und Kenner der Kultusministerkonferenz (KMK), erklärt, warum einige Länder die Bildungskooperation an die Wand gefahren haben.

„Machtpolitisch mag die Kultusministerkonferenz noch eine Funktion haben, bildungspolitisch wird sie den selbst gesteckten Zielen und den öffentlichen Erwartungen schon länger nicht mehr gerecht.“ (Mark Rackles, ehemaliger Staatssekretär der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft in Berlin)
  • E&W: Die KMK ist bei der Lösung des Lehrkräftedefizits krachend gescheitert. Ist die KMK politisch am Ende?  

Mark Rackles: Genau genommen sind die 16 Länder an der Frage der Lehrkräfteversorgung gescheitert. 20 Jahre lang haben sie in Summe nicht einmal ihren Eigenbedarf an Lehrkräften kontinuierlich ausgebildet. Hat ein Land Studienplatzkapazitäten aufgebaut, dann hat ein anderes Kapazitäten abgebaut. Ein unkoordiniertes System schöngerechneter Prognosen, mangelnder Studienplätze und fehlender länderübergreifender Koordination. Zugespitzt könnte man es so formulieren: Machtpolitisch mag die KMK noch eine Funktion haben, bildungspolitisch wird sie den selbst gesteckten Zielen und den öffentlichen Erwartungen schon länger nicht mehr gerecht.

  • E&W: Der Lehrkräftemangel steht seit 14 Jahren auf der KMK-Agenda. Jetzt fallen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der KMK als Lösung massive Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte ein. Ist das für Sie das Paradebeispiel für den Niedergang der KMK?

Rackles: Es ist in jedem Fall ein Paradebeispiel für die Verlagerung von Verantwortung. Die KMK hat zuletzt 2020 in ihrer unverbindlichen Ländervereinbarung Maßnahmen gegen das Lehrkräftedefizit und Standards beim Quer- und Seiteneinstieg formuliert. Nichts davon ist eingelöst, man hat sich nur auf die Verschiebung der Aufgabe an die SWK einigen können. Die soll ihre Gedanken zum Thema aufschreiben, über die die Politik dann in weiteren Jahren nachdenkt – oder auch nicht.

  • E&W: Vorschläge kommen jetzt von der SWK, warum traut sich die KMK nicht selbst aus der Deckung? Ist das ein Testballon oder pure Verzweiflung?

Rackles: Meines Erachtens haben die 16 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der SWK einen großen Fehler gemacht, als sie den Auftrag akzeptierten. Damit haben sie sich auf die operative Ebene der Bildungspolitik eingelassen. Die SWK sollte lieber bei „ihren Leisten“ bleiben: Das sind empirische Zusammenhänge, Standards, Erklärungswissen. Sie haben sich von den Amtschefs etwas naiv vor das „Rohr schieben“ lassen und für sie eine taktische Rolle übernommen. Im Ergebnis ist die vorgelegte Expertise von Bauchgefühlen, schwachen empirischen Belegen und einem sehr selektiven Betrachtungswinkel geprägt. Ich halte das Papier für die bislang schwächste Stellungnahme der SWK.

  • E&W: Wird der Lehrkräfteberuf durch die vorgeschlagenen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen noch mehr an Attraktivität verlieren und zu einer Nachwuchsbremse?

Rackles: Jede und jeder mag für sich bewerten, ob weniger Flexibilität in der Teilzeitgestaltung, längere Lebensarbeitszeiten und höhere Deputatsstunden den Beruf interessanter machen oder eher uninteressanter. Prof. Olaf Köller, der Leiter der SWK, behauptet, dass das eher marginale Effekte hätte, die durch die Maßnahmen kompensiert würden. Wieder so eine „Bauchsprecherei“ ohne jede empirische Evidenz.

  • E&W: Wollen Sie, dass die KMK Konkurs anmeldet, wie soll das aussehen?

Rackles: Ich will keinesfalls, dass die KMK „Konkurs“ anmeldet. Ich stelle nur fest, dass das politische Kapital einer Fachministerkonferenz wie der KMK darin besteht, dass sie verbindliche Absprachen trifft, die dann auf Respekt und Akzeptanz stoßen. Im Fall der KMK sehe ich, dass durch Alleingänge von Bayern und Brandenburg* zur Lehrkräfteversorgung das politische Kapital der KMK offenbar aufgebraucht ist. Die Länder machen einfach ihr Ding.

  • E&W: Die Länder flüchten sich in egoistische Sonderregelungen und Ad-hoc-Maßnahmen. Ist das jetzt die neue Schulpolitik?

Rackles: Das nennt sich Wettbewerbsföderalismus und ist aus bayerischer Sicht wahrscheinlich konsequent. Möge doch jeder sehen, wo er bleibt, notfalls zahlen wir einfach mehr als andere Länder. Wieder eine Form des Offenbarungseids des Bildungsföderalismus: Gesamtstaatliche Verantwortung in der Bildung ist eigentlich Sache der KMK. Auf der KMK-Website heißt es bis heute: „Dabei nehmen die Länder ihre Verantwortung für das Staatsganze selbstkoordinierend wahr.“ Übersetzt auf die Lehrkräfteversorgung heißt das: koordinierte Bedarfsprognosen, Kapazitätsplanungen und gemeinsame Qualitätsstandards beim Quereinstieg. Länder wie Bayern und Baden-Württemberg treten jedoch bis heute auf die Bremse.

  • E&W: Was halten Sie von der Ansage des Jenaer Professors Roland Merten, dass es keinen Mangel an Lehrkräften gibt, sondern nur zu viele Deputatsstunden für überflüssige „Anrechnungen“ oder „Abminderungen“?

Rackles: Der ehemalige Kollege Merten ist leider auf sehr populistischen Abwegen unterwegs. Er weiß als ehemaliger Staatssekretär sehr genau, dass der größte Teil der sogenannten Abminderungsstunden von den Bildungsverwaltungen zur pädagogischen Unterstützung eingerichtet sind und kaum zur Disposition stehen. Da geht es um Stunden für die Sprachförderung, Stunden für die Sonderpädagogik und die tarifliche Altersermäßigung von Lehrkräften, gesetzliche Freistellung von Personalräten etc. Ich schätze, dass rund 95 Prozent dieser pädagogisch unterstützenden Stunden nicht disponibel sind. Den Lehrkräften vorzuwerfen, dass sie diese Stunden zur Flucht aus dem Unterricht nutzen, bedient schlicht bekannte Vorurteile und trägt nichts zur Lösung des Bedarfsdefizits bei.

  • E&W: Sie haben gemeinsam mit einigen Mitstreiterinnen und -streitern kürzlich die Initiative „Bildungsrat von unten“ gegründet. Was will diese lostreten?

Rackles: Die Gründung des „Bildungsrats von unten“ ist eine unmittelbare Reaktion auf die doch etwas verengte Untersuchungsperspektive der SWK und dem nicht erkennbaren Konzept der KMK zu einer Debattenstruktur oder zur Einbeziehung der Expertise an der Basis. Ziel ist die bundesweite Vernetzung eben dieser Expertinnen und Experten von unten (Lehrkräfte, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie deren Interessenvertretungen, etwa die GEW, Schülerinnen und Schüler, Studierende, Eltern), die ihre Schwarmintelligenz digital so vernetzen, dass wir am Ende qualifizierte Empfehlungen zum Umgang mit dem Lehrkräftedefizit formulieren und veröffentlichen können, die etwas breiter aufgestellt sind. 

*Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat angekündigt, Lehrkräfte aus anderen Bundesländern abzuwerben; die Landesregierung von Brandenburg hat beschlossen, dass künftig auch Quereinsteigerinnen und -einsteiger mit Bachelor-Abschluss verbeamtet werden.