Qualität im Ganztag
Ein neuer Hafen für Bremen
Die Grundschule an der Melanchthonstraße in Bremen bereitet sich auf den Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung gründlich vor. Ob sie, wie geplant, als gebundene Ganztagsschule starten kann, ist indes noch ungewiss.
"Wir kommen mittlerweile wirklich in Zeitnot, wenn wir nur Unterricht von acht bis 13 Uhr anbieten“, sagt Laura Materna, Schulleiterin der Grundschule an der Melanchthonstraße im Bremer Westen. Jeden Morgen erscheinen am Schultor um Punkt acht Uhr 270 Kinder. Doch bisher kommen sie nur vormittags. Für erwerbstätige Eltern besteht die Möglichkeit, im benachbarten Hort für nachmittags einen Platz zu bekommen. Aber dort sind nie genügend Plätze frei.
Jetzt tut sich aber eine wunderbare neue Welt auf. Für Kinder, Eltern und den Lehrkörper: die gesetzlich garantierte Ganztagsgrundschule. Schulleiterin Materna und ihr Team haben bereits eine Vorstellung, wie diese aussehen soll: Ihnen schwebt eine gebundene Ganztagsschule vor, in der es Bildungsangebote verpflichtend bis in den Nachmittag gibt.
„Bisher preschen wir durch den Vormittag, und es bleibt keine Zeit, das Schulleben richtig auszuleben.“ (Laura Materna)
„Bisher preschen wir durch den Vormittag, und es bleibt keine Zeit, das Schulleben richtig auszuleben.“ Materna guckt freundlich durch ihre großen Brillengläser. Dazu komme, dass über 70 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund hätten und viele davon nicht gut Deutsch sprächen. „Deswegen müssen wir diesen Kindern anders begegnen.“ Seit sechs Jahren ist Materna Leiterin an der Schule, sie kennt viele Familien im Stadtteil persönlich.
Als Materna im Jahr 2023 von dem Pilotprojekt „Ganztag und Raum“ hörte, durchgeführt von der „Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft“, bewarb sie sich für die Schule. Und bekam den Zuschlag. Die Melanchthonschule ist eine von vier Schulen in der gesamten Bundesrepublik, die an diesem Projekt teilnahmen. Lehrerinnen und Lehrer, pädagogische Fachkräfte, Mitarbeitende des benachbarten Horts, der Schulaufsicht und der Bauträger entwickelten in verschiedenen Workshops ein Konzept. Sogar reine Kinderworkshops wurden angeboten. Es war eine reiche Erfahrung, sie mündete in einer dicken Broschüre.
Sehnsucht nach Bindung und Verlässlichkeit
In den Workshops wurde deutlich, was mit Schule selten in Zusammenhang gebracht wird. „Wir haben gemerkt, dass eine große Sehnsucht nach Bindung besteht, nach Verlässlichkeit“, sagt Materna. So erfanden die Teilnehmenden des Pilotprojekts für ihr neues Schulkonzept den Begriff „Bremer Heimathafen“. „Es soll ein Ort sein, an dem die Kinder fürs Leben lernen“, erklärt Materna.
Schöne Worte, die im hohen grauen Flur des ersten Stocks, durch den die Schulleiterin führt, blass klingen. „Wir wünschen uns dieses Gebäude ein bisschen zeitgemäßer.“ Die Schule ist beherrscht von kalten Fluren, wie so viele andere Schulen auch. Hier wurde jahrzehntelang nichts verändert. „Wir sind eine ‚Flurschule‘, das habe ich in den Workshops gelernt. Dieser Begriff bedeutet, dass von einem großen Flur die Klassenräume abgehen.“ In der Tat: lange, hohe Flure. Riesige, ungenutzte Räume, eine Architektur, die eher an eine Behörde erinnert als an eine Bildungseinrichtung, in die Kinder gerne gehen und an der sie gerne lernen.
„Obwohl ausdrücklich im Bremer Koalitionsvertrag als Ziel formuliert, liegt die gebundene Ganztagsschule für alle in weiter Ferne.“ (Katharina Krieger)
Ob aus der Grundschule an der Melanchthonstraße eine gebundene Ganztagsgrundschule wird, ist allerdings noch nicht sicher. Zwar kündigte die regierende Koalition aus SPD, Grünen und Linken im vergangenen Jahr an, mittelfristig alle Grundschulen in gebundene Ganztagsschulen umzuwandeln, doch wann dieses Vorhaben umgesetzt wird, ist unklar. Es ist eine Geld- und eine Personalfrage. „Obwohl ausdrücklich im Bremer Koalitionsvertrag als Ziel formuliert, liegt die gebundene Ganztagsschule für alle in weiter Ferne“, kritisiert Katharina Krieger, politische Referentin der GEW Bremen.
Auch Materna ist nach dem inspirierenden Jahr mit den Workshops und tollen Ideen mittlerweile ernüchtert. Und das nicht nur mit Blick auf die ungewisse Zukunft der Schule. Es fehle in Bremen Klarheit darüber, was mit dem Hort und den dortigen Mitarbeitenden passiere, sagt sie. Wen wundert es? Eine verlässliche Ganztagsschule kostet mehr Geld als eine Halbtagsschule. Wird Bremen dieses Geld haben? Unklar. Unklar ist auch, woher das Personal kommen soll. Stichwort Fachkräftemangel.
Offene Struktur geplant
Materna will dennoch für die Umsetzung ihrer Idee einer gebundenen Ganztagsschule kämpfen. Erst einmal hat sie einen Antrag geschrieben und beim Senat Bedarf angemeldet. Das geht jetzt in Bremen seinen bürokratischen Gang. Sollte das Vorhaben scheitern, muss sich die Schule bis zum Inkrafttreten des Rechtsanspruchs einen Alternativplan überlegen.
Zurück in ihrem Büro holt die Schulleiterin drei lange Papierrollen aus einem Schrank. Das sind die architektonischen Pläne der drei Stockwerke der Schule, Ergebnis des Pilotprojekts. Die geplanten Veränderungen sind eingezeichnet: in hellem Gelb die Striche für die Wände, wie sie heute noch stehen. In kräftigem Blau liegen darüber die Umrisse für die geplanten neuen Räume. „Wenn die Bauphase beginnt, werden Wände eingerissen! Und eine offenere Struktur wird entstehen.“
So sollen die Flure in die jeweiligen „Funktionsräume“ einbezogen werden. Manche Wände sollen verschwinden, an anderer Stelle Glaswände eingezogen werden. Das soll jedes der drei Stockwerke verbundener und luftiger machen. „Jede Ebene wird zu einem „Heimathafen“. Auf jeder Ebene sollen vier Klassen jahrgangsübergreifend von der 1. bis zur 4. Jahrgangsstufe lernen.
„Wir haben viele Kinder, die diesen Halt, die den Bezug zur Klassenlehrkraft brauchen.“
Maternas zwei Co-Schulleiterinnen sitzen an den beiden Schreibtischen des Schulleitungsraums, korrigieren ein paar Hefte und hören zu. Eigentlich hätten sie jetzt Leitungsbesprechung. Die drei wirken so, als könnten sie noch nicht ganz glauben, dass diese großen Veränderungen auf sie zukommen. Heimelig klingt die Idee des Ankerplatzes. Auf jedem Stockwerk soll gleich an der Treppe eine Wohnküche entstehen, eine Art Sammelbereich. Mit einem großen Tisch, an dem eine Lehrkraft die Kinder morgens in Empfang nimmt.
Danach gehen die Kinder in ihren Morgenkreis. Je nach Notwendigkeit und Interesse verteilen sich die Schülerinnen und Schüler dann auf die vielen Nischen der Ebene. Aber die Kerngruppe, also die Klasse, soll erhalten bleiben. „Wir haben viele Kinder, die diesen Halt, die den Bezug zur Klassenlehrkraft brauchen“, sagt die Schulleiterin.
„Dafür zu sorgen, dass der Tisch gedeckt ist, dafür zu sorgen, dass wir gemeinsam anfangen und gemeinsam aufhören. Das sind Dinge, die vielen Kindern in unserem Stadtteil fehlen.“
Einen Anbau soll es nicht geben. Nur ein kleiner Speiseraum soll im Souterrain entstehen. Denn auch für das Mittagessen gibt es Ideen. „Wir diskutieren gerade, ob wir nicht vielleicht in den Lernlandschaften essen.“ Die Schulleiterin hatte das ein paar Tage zuvor bei der Besichtigung einer anderen Bremer Schule gesehen. „Ich war so berührt, dass ich Gänsehaut hatte von der Essenssituation in der Klasse. Da habe ich gedacht, wenn unser Anspruch ist, einen sicheren Hafen zu errichten, dann gehört das gemeinsame Essen in der Gruppe dazu. Und nicht das Essen in einem lauten Mensabetrieb.“ Diese Dreiviertelstunde gemeinsam am Tisch sei wertvoll, so Materna. „Dafür zu sorgen, dass der Tisch gedeckt ist, dafür zu sorgen, dass wir gemeinsam anfangen und gemeinsam aufhören. Das sind Dinge, die vielen Kindern in unserem Stadtteil fehlen.“
Für die Umbauarbeiten an der Grundschule an der Bremer Melanchthonstraße sind zwei Jahre vorgesehen. Doch schon im Schuljahr 2026/2027 kommt der erste Jahrgang von Erstklässlern, für die der Rechtsanspruch auf Ganztag gilt, an die Einrichtung, danach kommt jährlich ein Klassenzug dazu. Es müssten also einige Jahre zwei Konzepte parallel laufen. „Ich habe dann personell zwei Strukturen zu bedienen und weiß nicht, wie wir das hinbekommen sollen. Da ist eine ganz große Unsicherheit drin“, so Materna. Doch die Schulleiterin und ihre zwei Stellvertreterinnen haben Elan. Sie wollen es sinnvoll hinkriegen.