„Bitte beeilen Sie sich“, ruft eine Stimme des Planungskomitees früh morgens durch den Frühstückssaal im Krakauer Hotel. Die rund 80 KonferenzteilnehmerInnen sind am Abend vorher angereist: Delegationen, vornehmlich aus Europa, Nordamerika und Israel. „Die Busse nach Auschwitz fahren pünktlich um 8.30 Uhr ab“, wird nachgelegt. Einigen TeilnehmerInnen stockt der Atem, man fühlt sich unbehaglich angesichts dieser Ansage. Auschwitz – der Ort des Unvorstellbaren, des Unmenschlichen, des Undenkbaren.
Die Tragödie begreiflich machen
Gut zwei Stunden von Krakau entfernt liegt Oswiecim, die Kleinstadt in der Woiwodschaft Kleinpolen. Über Nacht hat es geschneit. Leichter Nebel liegt über der morgendlichen Landschaft. Vorbei an Einfamilienhäusern, Gewerbeparks fährt der Bus Richtung „Muzeum Auschwitz“. In der Nähe des Bahnhofs sind die Bahnlinien zu sehen, von denen man ahnt, dass eine davon Richtung KZ Auschwitz abbog.
Die Zeremonie in Birkenau, das zwei Kilometer vom Stammlager entfernt ist, beginnt am Nachmittag. Der Vormittag wird dafür genutzt, das Stammlager mit dem Museumskomplex zu besichtigen und im Namen aller Delegierten an der Todeswand einen Kranz für die Opfer niederzulegen. Der erste Schritt auf das Tor zu mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“ ist schwer. Es ist ungewöhnlich ruhig an diesem Tag. Bekannte Bilder von Schuhen, Brillen und Kochgeschirr, werden im Museum zur greifbaren Realität. Bilder, die sich ins Gehirn einbrennen.
Während des Mittagessens entflammt die Diskussion über Auschwitz als Museum. Die einen kritisieren die übliche Führung, andere betonen die Wichtigkeit von Auschwitz als Ort des Realisierens der Gräueltaten, die bis dahin nur aus Büchern oder durch Erzählungen bekannt waren. Ein Problem, das auch der Leiter der Gedenkstätte und des Museums in Auschwitz, Dr. Piotr Cywinski, kennt: „Nicht nur die Überlebenden gehen von uns, sondern auch die LehrerInnen, die sich aus Tischgesprächen mit Eltern und Großeltern an den Krieg erinnern.“
Er sieht Tag für Tag Jugendliche, die sich lachend vor den Baracken fotografieren, die laut telefonierend mit dem Handy über den Exekutionsplatz laufen oder einfach nur gelangweilt vor sich hin starren. Dr. Piotr Cywinski fragt sich, „ob wir alles getan haben, was wir konnten, um unseren SchülerInnen begreiflich zu machen, dass es überraschend leicht zu den größten Tragödien kommt. Es reichen Frustrationen in der Gesellschaft, eine Prise Demagogie, ein imaginärer Feind“.
Gegen die Gleichgültigkeit.
Um die gleiche Frage geht es auch Roman Kent, einem der drei Überlebenden von Auschwitz, der am Nachmittag an der Todesrampe während der Zeremonie spricht. Roman Kent, der 1945 als 15-Jähriger nach einer langen Odyssee in Flossenbürg zusammen mit seinem Bruder Leon gerettet wurde, bewegt die Zuhörenden, als er von seinem Leid spricht: „Ich werde oft gefragt, wie lange ich in Auschwitz war. Dann sage ich: Ich weiß es nicht. Eine Minute in Auschwitz war ein Tag, ein Tag war ein Jahr und ein Monat eine Ewigkeit. Wie viele Ewigkeiten kann eine einzelne Person in ihrem Leben haben – die Antwort auf diese Frage kann ich immer noch nicht finden.“
Roman Kent spannt den Bogen in die Gegenwart und für die Zukunft. Er freue sich, so viele Staatsoberhäupter zu sehen, die der sichtbare Beweis für Mitgefühl und Engagement und gegen Gleichgültigkeit seien. Dies sei eine der Hauptlehren für die Zukunft: Alle müssen auch heute noch einbezogen bleiben, wenn es um das Erinnern für die Zukunft geht. „Wenn ich die Macht hätte, würde ich ein elftes Gebot zu den bisher zehn bekannten hinzufügen: Sei nie, nie, nie ein unbeteiligter Zuschauer!“, beschwört Roman Kent die zuhörenden Menschen, die im aufgebauten Zelt und weiter draußen an Großbildleinwänden der Zeremonie folgen.
Der Barbarei die Stirn bieten
In der Nähe sind in gleichmäßigen Abständen die Kamine der Baracken zu sehen, kaum zählbar. Hier, an diesem Ort, haben unzählige Menschen gelitten, verloren ihre Familie, sind gestorben. „Unvorstellbar“, flüstert eine Teilnehmerin. „Ich verstehe von den Reden der Überlebenden auf Polnisch nichts, aber es treibt mir die Tränen in die Augen.“ Geschichte, die durch den Ort begreifbar, die zu einer gegenwärtigen Empfindung wird: Das kann nur an Gedenkstätten, an authentischen Orten geschehen.
Die Konferenz zum Holocaust-Gedenken der internationalen Bildungsgewerkschaften beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Thema des Brückenschlagens in die Gegenwart und den Möglichkeiten, die LehrerInnen offenstehen – aber auch den Herausforderungen, denen sie sich zu stellen haben. Timothy Snyder, Yale-Professor aus den USA, stellt in seinem Beitrag die Geschichte des Holocaust dar und weist darauf hin, dass Auschwitz am Ende des Ganzen stand. „Der Holocaust begann im Osten – mit Massenerschießungen.“
Timothy Snyder formuliert scharf und provoziert auch bewusst. Es gelingt ihm, die am Holocaust beteiligten Menschen und Organisationen zu charakterisieren und aufzuzeigen, welche Bedingungen dafür nötig waren. Er zieht Parallelen zu heutigen Genoziden. Und er begreift die heutige Holocaust Education als immer nur dann wirksam, wenn SchülerInnen begreifen, in welchem Zusammenhang Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit heute stehen. „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“, schrieb Primo Levi, Schriftsteller und Auschwitz-Überlebender. Dem gilt es, sich zu stellen: Jugendliche stark für die Zukunft machen, sodass sie der Barbarei die Stirn bieten können.
Mit der Vergangenheit auseinandersetzen
Dazu gehört auch – so die Teilnehmenden der Konferenz – Erinnerungskultur im Klassenzimmer nicht nur auf einen nationalen Raum zu begrenzen. Es muss gelingen, SchülerInnen aus verschiedenen Herkunftsländern den Nationalsozialismus und den Holocaust zu vermitteln, ohne dass sie das Gefühl haben, es gehe sie nichts an. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit heutigen Flüchtlingsbewegungen oder mit dem Leid einzelner Ausgegrenzter. Auch muss beantwortet werden, wie das Thema in anderen Ländern wahrgenommen wird und warum es Gemeinsamkeiten oder Unterschiede gibt.
Bei der abschließenden Podiumsdiskussion wird die Frida-Levy-Gesamtschule aus Essen erwähnt, in deren Schulprogramm die Beschäftigung mit der Namensgeberin fester Bestandteil ist. Altersgerecht und äußerst kultursensibel gelingt es, sowohl die Person Frida Levy und ihr Leben nahezubringen als auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und der Bedeutung von Menschenrechten zu erreichen. Eines von vielen guten Beispielen, die das Podium beschreibt.
Während sich die ersten KonferenzteilnehmerInnen verabschieden, besprechen die israelische Bildungsgewerkschaft Histadrut HaMorim aus Israel und die GEW die letzten Planungen für ihr regelmäßiges Gewerkschaftsseminar, das in diesem Sommer in Tel Aviv stattfindet. Seit Mitte der 1960er Jahre treffen sich LehrerInnen aus Israel und Deutschland. Sie reden über den Unterricht in ihren Ländern, über Gemeinsamkeiten und Differenzen. Partnerschaften zwischen Schulen und Freundschaften zwischen Menschen entstehen. Besser kann es nicht sein!