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Bildungspolitisches Forum 2020

„Ein Jahr bringt gar nichts“

Wissenschaft und pädagogische Praxis agieren beim Thema sprachliche Bildung offenbar oft aneinander vorbei. Zudem sollte Sprachbildung noch stärker schon in der Kita beginnen. So lauten zwei zentrale Erkenntnisse des Bildungspolitischen Forums.

Frühkindliche Bildung ist wichtig, denn mit jedem zusätzlichen Kitajahr sinkt der Sprachförderbedarf. (Foto: Kay Herschelmann)

Die Zahlen sind alarmierend: Elternbefragungen zufolge hat etwa jedes fünfte Kind, das jünger als fünf Jahre ist, einen Sprachförderbedarf. In der Schule verfügt bis zu einem Viertel aller Schülerinnen und Schüler nicht über die nötigen sprachlichen Kompetenzen, um dem Unterricht folgen zu können. Und 6,2 Millionen Erwachsene können gar nicht oder nur einfache Sätze lesen und schreiben. Das hat nicht nur gravierende Folgen für den Bildungserfolg und das Berufsleben, sondern auch für die gesellschaftliche Teilhabe (s. E&W 11/2020).

Fachleute fordern daher eine Gesamt-strategie zur durchgängigen sprachlichen Bildung – von der Kita über die Schule bis zur Erwachsenenbildung und unter Einbeziehung digitaler Medien. Bisher gebe es in den Bundesländern vor allem Einzelprojekte und Ad-hoc-Maßnahmen. Beim virtuellen Bildungspolitischen Forum „Gute sprachliche Bildung“ im Oktober legten die Sprechergruppe des Leibniz-Forschungsnetzwerks Bildungspotenziale (LERN) und die Organisatoren des Forums ein entsprechendes Eckpunktepapier vor.

Fragile Erfolge

Zwar steht sprachliche Bildung seit vielen Jahren auf der bildungspolitischen Agenda. „Die Erfolge sind aber längst nicht so groß wie erhofft“, betonte LERN-Sprecher Marcus Hasselhorn, Direktor der Abteilung Bildung und Entwicklung beim Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF). Bisher Erreichtes sei zudem „sehr fragil“ – und durch fehlende sprachliche Kontakte während der Coronakrise derzeit wieder in Gefahr, sagte Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Flüssiges Lesen und Schreiben seien indes enorm wichtig, da sie Voraussetzung für das Lernen auch in anderen Unterrichtsfächern sind.

Die Autorinnen und Autoren empfehlen in ihrem Positionspapier, pädagogische Fachkräfte gezielter fortzubilden und wissenschaftliche Expertise mehr einzubeziehen. Zudem seien die Diagnostik der Sprachentwicklung jedes Kindes schon in der Kita, sprachsensibler Unterricht in allen Schulfächern und eine stärkere Integration von Mehrsprachigkeit notwendig. Im Falle von Distanzunterricht sollten digitale Lese- und Schreibtrainings genutzt werden. Die sprachliche Grundbildung Erwachsener müsse auf Alltagssituationen wie das Lesen von Fahrplänen oder das Schreiben an eine Behörde vorbereiten.

Im Dialog und in drei Foren wurde beraten, wie all dies gelingen könne. Konkrete Themen waren unter anderem Fördermaßnahmen in der frühen sprachlichen Bildung, Sprachbildung im Fachunterricht, evidenzbasierte Leseförderung sowie die sprachliche Entwicklung neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler.

„Wir wissen sehr gut, was funktioniert, aber wie bekommen wir das umgesetzt?“ (Petra Stanat)

Dabei fiel immer wieder ein Begriff: „Transferproblematik“. Konkret bedeutet das: Zwar gibt es viele als wirksam bewertete Angebote zur Sprachbildung, aber unklar ist, wann diese auch in Kitas und Schulen ankommen – und wann nicht. „Wir wissen sehr gut, was funktioniert, aber wie bekommen wir das umgesetzt?“, erläuterte Petra Stanat, Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Berliner Humboldt-Universität.

Elmar Souvignier, wissenschaftlicher Leiter der Arbeitseinheit Diagnostik und Evaluation im schulischen Kontext an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, analysierte: „Die Konzepte und Programme in ihrer vorliegenden Form scheinen nicht in den schulischen Alltag zu passen.“ Damit stelle sich die Frage, welche Unterstützung Lehrkräfte konkret benötigten, um Fördermethoden in den schulischen Alltag übernehmen zu können, und welche Anpassungen erfolgen müssten. Dazu sei mehr begleitende praxisorientierte Forschung notwendig.

„Wir müssen uns trauen, auch in Kitas mit einem anderen empirischen Anspruch zu gehen.“ (Martina Diedrich)

Nicole Marx, Professorin für Sprachliche Bildung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Köln, ergänzte, die Erforschung der Lerngruppe der neu Zugewanderten sei wegen deren Heterogenität schwierig und daher noch sehr lückenhaft. Erfahrungen aus dem Ausland zeigten jedoch, dass es zehn Jahre und länger dauern könne, bis diese Lernenden den Stand der Regelschülerinnen und -schüler erreicht hätten. Zentral für die erfolgreiche sprachliche Bildung neu Zugewanderter sei daher eine längerfristige Planung mit anhaltenden Unterstützungsangeboten: „Ein Jahr bringt gar nichts.“

Doch nicht nur Wissenschaft und Praxis, auch Kita und Schule müssen sich nach Ansicht vieler Referentinnen und Referenten stärker annähern. Stanat betonte, Kinder müssten noch besser vorbereitet in die Schule kommen. Martina Diedrich, Direktorin des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) in Hamburg, sagte, mit jedem zusätzlichen Kitajahr sinke der Sprachförderbedarf. Ein wissenschaftlicher Zugriff auf das, was in den Kitas passiere, fehle jedoch. „Da würde ich mir ein Monitoring wünschen. Wir müssen uns trauen, auch in Kitas mit einem anderen empirischen Anspruch zu gehen.“

„Lehrkräfte, die 15 bis 20 verschiedene Herkunftssprachen vor sich versammelt haben, darf man auch nicht überfordern.“ (Thomas Lindauer)

An vielen Stellen der Veranstaltung wurde derweil sichtbar, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und nicht Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher diskutierten. „Wir müssen die abstrakte Flughöhe runterbrechen“, bilanzierten die Referierenden selbst. Der Deutschdidaktiker Thomas Lindauer von der Fachhochschule Nordwestschweiz gab zu bedenken, dass weiter steigende Anforderungen an Kita-Fachkräfte auch Fragen des Status‘ und der Bezahlung nach sich zögen. Stanat räumte bei der geforderten stärkeren Integration der Mehrsprachigkeit in den Unterricht ein: „Lehrkräfte, die 15 bis 20 verschiedene Herkunftssprachen vor sich versammelt haben, darf man auch nicht überfordern.“ Souvignier zufolge benötigen Schulen möglicherweise mehr Unterstützung oder sogar Steuerung durch die Bildungspolitik. Ähnlich betonte Lindauer: „Sprachliche Bildung ist Aufgabe des ganzen Systems, nicht nur der Deutschlehrkräfte.“