Startchancen-Programm
Ein ehrgeiziges Prestigeprojekt
Mit dem Startchancen-Programm wollen Bund und Länder 20 Milliarden Euro in zehn Jahren investieren, um bis zu einer Million sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler an rund 4.000 Schulen gezielt zu fördern.
In der jüngsten PISA-Studie aus dem Jahr 2022 schnitten 15-jährige Schülerinnen und Schüler in Deutschland so schlecht ab wie nie zuvor. Besonders besorgniserregend war der Rückgang der Kompetenzen in Mathematik. Und laut der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU von 2021 können rund 25 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler nicht richtig lesen. Immer weniger Schülerinnen und Schüler erreichten die Bildungsstandards, bilanzierte der „Bildungstrend 2022“ des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Nationale wie internationale Studien zeigen -darüber hinaus: Der Bildungserfolg hängt hierzulande immer noch sehr stark von der sozialen Herkunft ab.
Zu Beginn des Startchancen-Programms, um dessen Finanzierung Bund und Länder monatelang gerungen hatten, kündigte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) daher eine „bildungspolitische Trendwende“ an: „Wir sorgen dafür, dass wieder gilt: Du kannst es schaffen, wenn du dich anstrengst, egal aus welchem Elternhaus du kommst.“ Ziel des Programms ist, mehr Chancengleichheit herzustellen, indem Schulen mit einem hohen Anteil sozialökonomisch benachteiligter Schülerinnen und Schüler gezielt gefördert werden.
Vor allem Grundschulen werden gefördert
Am 1. August gab es 2.125 Schulen im Programm, das sind mehr als doppelt so viele wie ursprünglich geplant. 1.389 davon sind Grundschulen. Bis zum Schuljahr 2026/27 soll es bundesweit etwa 4.000 Startchancen-Schulen geben. Die Auswahl der Schulen mit dem größten Unterstützungsbedarf treffen die Länder beziehungsweise die Kommunen.
Stark-Watzingers Prestigeprojekt hat ein ehrgeiziges Ziel: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, welche die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik verfehlen, soll bis zum Ende der Laufzeit an den Startchancen-Schulen halbiert werden. Das Programm soll jungen Menschen aber auch Zukunftskompetenzen vermitteln und zur demokratischen Teilhabe befähigen. Weil in den ersten Schuljahren wichtige Weichen gestellt werden, gehen 60 Prozent der Fördermittel an Grund-, 40 Prozent an weiterführende und berufliche Schulen.
Dafür investieren Bund und Länder zusammen rund 20 Milliarden Euro in zehn Jahren. Der Bund stellt bis zu eine Milliarde Euro jährlich zusätzlich zur Verfügung, die Länder sollen sich im selben Umfang beteiligen, dürfen dabei jedoch Ausgaben für bereits laufende Projekte anrechnen lassen. Die genaue Verteilung und Verwendung der Mittel wurde in Verwaltungsvereinbarungen geregelt. Das Bundesbildungsministerium (BMBF) spricht vom „größten und langfristigsten Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“. Es wird wissenschaftlich begleitet und evaluiert.
Sozialindex statt Königsteiner Schlüssel
Anders als bisher werden die Mittel nicht nur nach der Länderfinanzkraft, dem Königsteiner Schlüssel, sondern erstmals auch nach Bedürftigkeitskriterien verteilt. Vom Sozialindex profitieren Schulen mit vielen Kindern und Jugendlichen mit Armuts- oder Migrationshintergrund.
Geld gibt es für moderne Infrastruktur und Ausstattung, Lernförderung in den Kernfächern sowie für Fachkräfte in der Sozialarbeit oder psychologischen Betreuung. Offiziell heißen die drei Programmsäulen: Investitionen in eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung (40 Prozent der Mittel), Chancenbudgets für bedarfsgerechte Lösungen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung (30 Prozent) und Personal zur Stärkung multiprofessioneller Teams (30 Prozent). Schulen können ihr Startchancen-Budget nach Bedarf einplanen. Woher das zusätzliche Personal angesichts des Fachkräftemangels kommen soll, bleibt indes unklar.
Offen sind weitere Fragen: Von der Förderung profitiert etwa jede zehnte Schule – was aber ist mit den anderen Einrichtungen? Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken verlangte bereits, das Fünffache der Mittel zur Verfügung zu stellen und das Programm auf zumindest die Hälfte der Schulen auszuweiten.
GEW fordert Ausbau und Verstetigung
Auch die GEW forderte, bei der Finanzierung nachzubessern. Zwar sei die Verteilung eines Teils der Gelder nach Sozialindex im Vergleich zur Vergangenheit „ein echter Durchbruch“, sagte die Vorsitzende Maike Finnern. Endlich würden die Mittel dort eingesetzt, wo sie am meisten benötigt würden. Allerdings sei der Bedarf sehr viel höher als die jährlich zur Verfügung stehenden zwei Milliarden Euro. „Das Startchancen-Programm erreicht nur rund 10 Prozent aller Schülerinnen und Schüler. Gut 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind jedoch arm beziehungsweise armutsgefährdet“, betonte Finnern. Es könne daher nur ein Einstieg in eine dauerhafte, solide Finanzierung benachteiligter Schulen sein. „Das Programm muss über die zehnjährige Laufzeit hinaus verstetigt und besser ausfinanziert werden“, verlangte sie.
Zudem würden nur die Gelder der ersten Säule des Projekts nach einem Sozialindex verteilt und die Mittel für die anderen beiden Säulen, die einen großen Teil des Programms ausmachten, weiter bedarfsunabhängig nach dem Königsteiner Schlüssel vergeben. Die GEW wünscht sich zudem, dass die Länder die Schulleitungen bei der Administration des Programms, der Schulentwicklung und der pädagogischen Umsetzung unterstützen, damit Schulen nicht wegen Zeit- und Personalmangels am Prozedere scheitern.
Zehn Milliarden plus X
Der Bildungsforscher und Jurist Michael Wrase, einer der Leiter des „Expert:innenforum Startchancen“ des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und der Robert Bosch Stiftung, nannte die angekündigte Summe von 20 Milliarden Euro derweil „irreführend“. „Es werden zehn Milliarden plus X“, sagte er im Interview mit dem Radiosender WDR 5. Denn wie viel Geld neben der einen Milliarde an Bundesmitteln pro Jahr von den Ländern komme, sei völlig unklar. Auch der Mediendienst Table.Media meldete bereits, das Startchancen-Programm werde deutlich kleiner ausfallen als beworben, weil die Länder Bildungsausgaben, die sie bereits tätigen, anrechnen lassen können und so nicht ausschließlich zusätzliches frisches Geld investieren müssen.