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LesePeter Oktober 2024

Ein Buch über Familie und Freunde

Aus den Blickwinkeln von vier Mädchen, die zu unterschiedlichen Zeiten heranwachsen und zugleich familiär bzw. freundschaftlich miteinander verbunden sind, erzählt Tamara Bach in „Von da weg“ von diversen Neuanfängen.

Kaija ist mit ihrer Familie in die kleine Heimatstadt ihrer Mutter gezogen. Der geplante Neuanfang realisiert sich allerdings als Bewältigungsakt verschiedener Fremdheitsgefühle, die mehrstimmig zum Ausdruck gebracht werden. In einem geschickten Erzählarrangement von intergenerationellen Erfahrungen kann der Suche nach Identität eindrucksvoll nachgespürt werden. 

Daher geht der LesePeter für den Monat Oktober 2024 an “Von da weg” von Tamara Bach.

Die Suche nach Identität wird häufig als bedeutsame Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz angesehen. Dass dieser Findungsprozess nicht unbedingt an ein konkretes Alter gebunden sein muss, sondern bisweilen lebenslang andauert, bringt Tamara Bach in ihrem neuen Werk vieldimensional zum Ausdruck. Aus den Blickwinkeln von vier Mädchen, die zu unterschiedlichen Zeiten heranwachsen und zugleich familiär bzw. freundschaftlich miteinander verbunden sind, verfolgen die Leser:innen diverse Neuanfänge. Sie alle münden darin, die eigene Heimat im Innen und Außen zu ergründen und anzunehmen. 

Auftakt der Erzählung bildet die nicht ganz ungewöhnliche, aber dennoch herausfordernde Situation der circa 12-jährigen Kaija. Ihre Familie ist aus einem Wohnprojekt in der Großstadt in die 600 Kilometer entfernte kleinbürgerliche Heimatstadt der Mutter gezogen. In deren Elternhaus versuchen sie sich zusammen mit der pflegebedürftigen Großtante Josepha einzurichten – ein generationsübergreifendes Projekt mit individuellen Ausgangslagen.

Kaija muss sich nach den Sommerferien in der neuen Schule zurechtfinden. Obwohl sie sich insgeheim raschen Anschluss wünscht, wehrt sie sich vehement gegen jede Form von Kontaktversuchen ihrer Mitschüler:innen. Ihre daraus resultierenden Einsamkeitsgefühle potenzieren sich, als ihre alten Freundinnen unmittelbar nach dem Umzug eine neue Chatgruppe ohne Kaijas Mitgliedschaft eröffnen. Die unausgesprochenen „Arschlochgedanken“ erzeugen Rückzug und Isolation. 

Ruth, Kaijas Mutter, ist Lehrerin an derselben Schule, die auch sie schon als Jugendliche besucht hat. Sie erkennt zwar, dass sie versäumt, sich um ihre Tochter zu kümmern, ist aber mit der Verarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Die wird nachvollziehbar, als aus ihrer Perspektive in Form einer ersten Analepse ein Rückblick in die 1990er Jahre erfolgt. Nach dem Abitur lässt sie das provinzielle Leben hinter sich und bereist die Welt. Der plötzliche Unfalltod ihrer Eltern raubt ihr alle Wurzeln und sorgt dafür, dass sie die Heimat gänzlich verlässt und so auch die Verbindung zu ihrer besten Freundin Sina verliert. 

Auch Großtante Josepha, großgeworden in der Nachkriegsgeneration, hat der Kleinstadt den Rücken gekehrt. Aus ihrer Warte wird mittels einer zweiten, weiter zurückliegenden Anachronie deutlich, welche Hürden eine lesbische Frau mit einer progressiven Lebenseinstellung in den 1960er Jahren bewältigen musste. 

Die vierte Stimme kommt von Sina, die aus familiären Gründen die Heimat nicht verlassen kann. Sie versucht den Verlust ihrer Freundin Ruth durch lebenspraktische Beziehungen zu ersetzen und sich diese plausibel zu begründen.

Eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Biografien stellen zwei weitere Figuren her. Da ist zum einen Thomas, Kaijas Vater, der als australischer Musiker allen Grund hätte, sich fremd zu fühlen, aber seine Familie immer wieder dazu ermuntert, Anschluss zu finden. Auf der anderen Seite vermittelt Emily, Sinas Tochter, zwischen den Generationen. Mit ihrer extrovertierten Art lässt sie nicht locker, sowohl den Kontakt zwischen ihrer Mutter und Ruth wiederherzustellen als auch eine Beziehung zu Kaija aufzubauen. Ein gemeinsames Schwimmerlebnis am Ende deutet einen geglückten Neubeginn an. 

Es ist unschwer zu erkennen, dass der Plot geschickt durch kreative Verwebungen verschiedener Ebenen in Szene gesetzt wird. Perspektivwechsel, fein darauf abgestimmte Zeitsprünge, aber auch eine kreative Ausdrucksweise mit syntaktischen Ellipsen, transponierter Rede und zugänglichen Metaphern sorgen für den unvergleichlichen Sound, für den Tamara Bachs Werke bekannt sind. Mittels einer durchgängig personalen Erzählweise gelingt es der Autorin hier, die Erfahrungen der verschiedenen Frauen aus ihrer jeweiligen Zeit wirken zu lassen. 

Kaijas Erlebnisse bilden dabei quasi die Rahmenhandlung und nehmen mit elf von 15 Kapitels auch quantitativ den meisten Raum ein. Die in unregelmäßiger Form dazwischengeschalteten Rückblenden scheinen die Gegenwart aller vier Stimmen zu erläutern. Geeint werden sie durch Alteritätserfahrungen, die eben zeitungebunden sind und zum Erwachsenwerden genauso dazugehören wie zur Aufarbeitung der Herkunftsgeschichten. 

Gleichwohl fällt bei der Lektüre auf, dass der Plot nicht von äußerer, sondern von innerer Handlung getragen wird. Es sind so auch eher die auf den ersten Blick nicht sichtbaren Vorgänge diverser Charaktere, die die Leser:innen nachspüren lassen und so der verschiedenen Stimmungen gewahr werden können. Es handelt sich um einen Roman, der sowohl zum Nachdenken über die eigene Individuation anregt, als auch Potenzial zur Anschlusskommunikation bietet. 

Die Autorin

Tamara Bach, 1976 in Limburg an der Lahn geboren, studierte in Berlin Englisch und Deutsch für das Lehramt. Ihr erstes Buch, „Marsmädchen“, wurde als noch unveröffentlichtes Manuskript mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet und erhielt außerdem den Deutschen Jugendliteraturpreis. Weitere Bücher und Auszeichnungen folgten, u.a. der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis 2013 für „Was vom Sommer übrig ist“. 

2014 stand „Marienbilder“ auf der internationalen Auswahlliste White Ravens. Ihr Roman „Vierzehn“ wurde gleich in zwei Kategorien für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Ihre Kinder- und Jugendbücher erscheinen im Carlsen-Verlag. Heute lebt und schreibt Tamara Bach in Berlin. 2021 wurde sie für ihr „beeindruckendes literarisches Werk“ mit dem James Krüss Preis ausgezeichnet!

Die AJuM vergibt den LesePeter monatlich abwechselnd in den Sparten Kinderbuch, Jugendbuch, Sachbuch und Bilderbuch.

Tamara Bach, Von da weg, Carlsen 2024, 176 Seiten, ISBN 978-3-551-58543-1, ab 13 Jahren, 15 Euro