Berufsbildung
Ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsstellen gibt es nach wie vor nicht
Die Wirtschaft klagt über fehlende Fachkräfte. Doch Unternehmen und Verwaltung bilden viel zu wenig junge Menschen aus. Über 60.000 fanden 2022 keinen Ausbildungsplatz, darunter auch viele Abiturienten.
Die vom Bundesinstitut für Berufsbildung (bibb) Mitte Dezember vorgelegten Zahlen zur Jahresbilanz der Beruflichen Bildung belegen erneut die seit Jahrzehnten bestehenden ungelösten Strukturprobleme. Im Langzeitvergleich geht der Trend über Jahre hinweg immer weiter abwärts: Es gibt weniger Ausbildungsplatzangebote und weniger Vertragsabschlüsse, aber auch weniger Bewerber. Neu ist hingegen der Anstieg der unbesetzten Ausbildungsplätze zum gesetzlichen Bilanzstichtag 30. September. Dabei sind die Erwartungen der Betriebe und die Berufswünsche der jungen Menschen immer schwerer in Einklang zu bringen. Hinzu kommen häufig regionale Versorgungsprobleme, Mobilitätshemmnisse wegen fehlender Wohnheime und schlechter Verkehrsanbindungen.
Bewerbermangel herrscht vor allem in Berufen mit vielen Überstunden, wechselnden Arbeitszeiten, mäßiger Bezahlung und körperlich schwerer Arbeit.
Industrie, Handel, Handwerk und Verwaltung gelang es 2022 nicht, den durch die Corona-Pandemie in den beiden Vorjahren erfolgten massiven Einbruch bei den Vertragsabschlüssen auch nur annähernd auszugleichen. Zwar wurden mit 475.100 Ausbildungsverträgen 2100 mehr als im Vorjahr abgeschlossen, was ein minimales Plus von 0,4 Prozent bedeutet. Im Vergleich zu 2019 – dem Jahr vor der Pandemie – wurden diesmal jedoch 52.000 weniger neue Verträge unterzeichnet. Dabei schrumpfte auch das Lehrstellenangebot von Wirtschaft und Verwaltungen gegenüber 2019 um 34.200 Plätze.
Schaut man in die bibb-Statistik, welche Berufe in diesem Jahr mangels Bewerber deutlich weniger neue Ausbildungsverträge abgeschlossen, dann sind dies vor allem Tätigkeiten mit vielen Überstunden, wechselnden Arbeitszeiten, mäßiger Bezahlung oder körperlich schwerer Arbeit. Das gilt für die Gastronomie (insbesondere in der Systemgastronomie), für das Lebensmittelhandwerk (insbesondere Bäcker und Fleischer) und für das Baugewerbe (insbesondere Straßenbau).
Ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsstellen gibt es nach wie vor nicht.
60.400 junge Menschen suchten 2022 vergebens einen betrieblichen Ausbildungsplatz. Ein knappes Viertel davon verfügt über Abitur oder die Fachhochschulreife. Mehr als ein Drittel hat einen Mittleren Schulabschluss, 30 Prozent mindestens den Hauptschulabschluss.
Massiv beklagt sich die Wirtschaft darüber, dass 68.900 angebotene Lehrstellen mangels geeigneter Bewerber nicht besetzt werden konnten. Diese Zahl stieg im dritten Jahr in Folge auf einen neuen Rekordwert. Gleichwohl: Betrachtet man das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage insgesamt, dann kamen 2022 auf 100 Bewerber bundesweit 101,6 Lehrstellenangebote von Wirtschaft und Verwaltungen. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1980 kann von einem auswahlfähigen Angebot erst dann gesprochen werden, wenn für 100 Bewerber 112.5 angebotene Plätze zur Verfügung stehen.
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sprach angesichts der nur marginalen Steigerung der Neuabschlüsse um 0,4 Prozent von einem „Warnsignal“. Es müssten dringend mehr junge Menschen in Ausbildung gebracht werden. Wenige Tage vor Veröffentlichung der bibb-Statistik hatte die Ministerin eine Neuauflage der „Exzellenzinitiative Berufliche Bildung“ gestartet. Dabei war jedoch Kritik laut geworden, dass es sich bei dem Programm überwiegend nur um eine Bündelung und eine Fortsetzung bestehender Programme handele.
Es passt einfach nicht zusammen, dass sich die Wirtschaft über einen wachsenden Fachkräftemangel beklagt, aber nicht bereit ist, ausreichend in die Ausbildung der jungen Leute zu investieren.
(Ralf Becker)
Die GEW macht sich für eine umlagefinanzierte Ausbildungsgarantie stark. „Es passt einfach nicht zusammen, dass sich die Wirtschaft über einen wachsenden Fachkräftemangel beklagt, aber nicht bereit ist, ausreichend in die Ausbildung der jungen Leute zu investieren“, sagte Ralf Becker, GEW-Vorstandsmitglied für Berufliche Bildung und Weiterbildung. Die Ampel-Koalition strebt eine Ausbildungsgarantie an. Doch die Finanzfrage ist noch völlig offen. In der FDP-Fraktion gibt es erhebliche Vorbehalte gegen eine Umlagefinanzierung. Sie müsste zudem auch vom Bundesrat gebilligt werden.
Becker sagte weiter, zudem müssten die berufsbildenden Schulen nach jahrzehntelanger Vernachlässigung durch Bund, Länder und Kommunen dringend gestärkt werden. „Ein auf Digitales beschränktes Ausstattungsprogramm reicht bei Weitem nicht aus.“ Die GEW fordert einen Pakt für die berufsbildenden Schulen, „um sie als stabiler, verlässlicher und konjunkturunabhängiger Partner in der Berufsausbildung zu stärken“, so Becker.