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Rassismus im Alltag

Ein allgegenwärtiges Problem

Rassismus ist ein allgegenwärtiges Problem. Ob im Beruf, Alltag, Sport oder in der Schule – nirgends sind Menschen davor sicher, wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft, Religion ausgegrenzt, beschimpft oder angegriffen zu werden. Wo liegen die Gründe?

So vielfältig die Schule mit ihren verschiedenen Nationalitäten heute sei, so eine Schulleiterin, so facettenreich verliefen die Fronten der Diskriminierung. Foto: Alexander Paul Englert

Vera Nkenyi Ayemle hat in Kamerun Jura studiert und lehrt heute Pädagogik an der Hochschule für Sozialpädagogik im baden-württembergischen Esslingen. Ihr Themenschwerpunkt: Rassismus. Als sie 2003 nach Deutschland kam, bekam sie ihr Forschungsthema am eigenen Leib zu spüren – immer wieder. „Ich hatte den Eindruck, dass jeder mich anstarrt“, berichtet sie. Eine demütigende Erfahrung, von der sie hofft, dass sie ihren Enkeln einmal erspart bleiben wird. Ihren in Deutschland geborenen Kindern ist das Privileg, nicht diskriminiert zu werden, nicht immer vergönnt gewesen. Der Tochter beschied eine Nachbarin, ihre Haut sei „schmutzig“, ihr Sohn – einziger schwarzer Junge in der Klasse – durfte in der Schule beim Vater-Mutter-Kind-Spiel nicht mitmachen. Schwarze könnten keine Weißen heiraten, sagten die anderen Kinder. Die Rolle, die ihm stattdessen zugewiesen wurde: „Er musste den bösen Nachbarn spielen.“

Wegen solcher Erfahrungen hat Nkenyi den Verein „Sompon Social Services“ gegründet, der im vierten Stock eines historischen Stadtturms in der Esslinger Innenstadt untergebracht ist: „Sompon“ bedeutet „etwas Schönes“. Gerade weil vieles, was Migranten in Deutschland erleben, alles andere als schön ist: Da wäre die alte Frau, die Nkenyi und eine von ihr betreute Jugendgruppe wutentbrannt anraunzte, sie sollten doch alle schleunigst „nach Hause gehen“. Dass die meisten Kinder in Deutschland geboren sind und kein anderes „Zuhause“ kennen, überzeugte die alte Dame nicht. Da ist der afrikanische Christ, der in einer Esslinger Gemeinde aufgefordert wurde, doch in eine „afrikanische Kirche“ zu gehen. Und da sind viele, viele Alltagserfahrungen, die zeigen, dass es noch eine Weile dauern wird, bis Menschen unterschiedlicher Herkunft im gleichen Land leben können, ohne ständig das Gefühl vermittelt zu bekommen, nicht dazuzugehören.

Land rückt nach rechts

Das Land ist parallel zu den Wahlerfolgen der AfD nach rechts gerückt. Doch man macht es sich zu einfach, wenn man Rassismus und diskriminierende Verhaltensweisen ausschließlich den Schmuddelkindern vom rechten Rand zuschreibt. Beides sind Phänomene, denen die Betroffenen in allen gesellschaftlichen Bereichen begegnen: in der Schule, den Betrieben, in der Fußgängerzone. Auf rassistische Äußerungen haben Deutsche dabei kein Monopol. Türken beschimpfen Kurden, Christen beschimpfen Muslime, Deutsche werden „Kartoffeln“ genannt, „du Jude“ ist auf einigen Schulhöfen ein gängiges Schimpfwort – „du Zigeuner“ sowieso.

Deutschland hat ein Problem. Es heißt Alltagsrassismus. Seit 2006 gibt es dazu eindeutige empirische Befunde. Die Studie „Gespaltene Mitte“* der Friedrich-Ebert-Stiftung weist im Zweijahresrhythmus nach, dass rechtsextreme Einstellungsmuster weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Leipziger Uni-Studie „Die enthemmte Mitte“**.

Zahlen sind das eine. Was sie ausdrücken, spüren die Betroffenen:

  • ... wenn im ICE nur einer der vielen Dutzend Berufspendler von Freiburg nach Basel von den Grenzern nach seinem Pass gefragt wird – und das derjenige ist, der in Kamerun geboren wurde.
  • ... wenn es an der Discotür „members only“ heißt, sobald ein dunkelhäutiger Jugendlicher davor steht – und die Tür danach wieder durchlässig wird.
  • ... wenn Hasan acht Bewerbungen schreiben muss, um einen Job zu bekommen – und Patrick mit dem schlechteren Abi-Durchschnitt nur drei.
  • ... wenn die in Tübingen geborene Malaika Rivuzumwami immer wieder hört, wie gut sie doch deutsch spreche.

Vier Beispiele von vielen, die die taz-Journalistin Rivuzumwami zu einem eindeutigen Urteil bringen: „Nach außen präsentiert sich Deutschland als buntes Land. Rassismus, Homophobie und Antisemitismus werden nicht geduldet. Die Realität sieht anders aus.“ Wie sie tatsächlich aussieht, schildern derzeit Zigtausende Menschen auf Twitter unter dem Hashtag #metwo.

Aufschlussreich ist auch der Fall des 92-fachen deutschen Fußballnationalspielers Mesut Özil, der einige Wochen vor der Weltmeisterschaft 2018 ein Foto mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan schießen ließ. Nun ist es natürlich problematisch, wenn ein Prominenter – ob willentlich oder aus Naivität – für einen Politiker Wahlkampfhilfe leistet, der Oppositionelle ins Gefängnis werfen lässt und die Pressefreiheit missachtet. Nur die Tonalität der Kritik, die war dann doch aufschlussreich: Özil wurde meist nicht inhaltlich angegriffen, vielmehr wurde seine Eignung als deutscher Nationalspieler hinterfragt. Als ob Deutsch-Sein etwas wäre, dessen sich ein Mensch mit dem Namen Özil auch 29 Jahre nach seiner Geburt in Gelsenkirchen Tag für Tag neu würdig erweisen müsse.

Deutscher „auf Bewährung“

Deutscher sei man hierzulande nur „auf Bewährung“, sagt auch der 48-jährige Fathi Ilhan, der seit 45 Jahren in Dortmund lebt und dort das größte Ramadan-Fest Europas organisiert. Ilhan hat 2003 sein Elektrotechnik-Studium abgeschlossen, mit einem Notendurchschnitt von 1,7. 200 Bewerbungen später hatte er nur Absagen angehäuft, genau wie die arabischen oder iranischen Kommilitonen. Die deutschen Mitstudierenden seien hingegen allesamt binnen kurzem untergekommen.

Bis heute hat sich nicht viel geändert, wie die Schauspielerin Sibel Kekili in der ZEIT berichtet. Ein „hoch angesehener Regisseur“ habe ihr gegenüber gesagt, es gebe keine guten Schauspieler mit Migrationshintergrund. Seit ihrer Kindheit kenne sie Rassismus: „Im türkischen Zuhause und Umfeld wurde auf Kurden, Armenier, Araber geschimpft, aber auch auf Juden, Christen, Ungläubige. In der Schule war es dann umgekehrt. Wir wurden Knoblauchfresser genannt.“

Was Ilhan und Kekili sagen, lässt sich mit den Zahlen des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) untermauern. Auf die Frage, ob sie sich in den letzten fünf Jahren diskriminiert gefühlt hätten, antworteten nur 46 Prozent der Menschen mit Wurzeln in der Türkei, das treffe „gar nicht“ zu. Ebenfalls im Auftrag des SVR hat eine Studie zu Unternehmen und Betrieben ergeben, dass es oft der erste Blick auf den Namen ist, der darüber entscheidet, ob die Bewerbung mit einer Zu- oder Absage beantwortet wird.

„Verbale Aggressionen vermischen sich immer mehr mit offener Gewalt und führen zu Verletzungen der psychischen und körperlichen Integrität der Betroffenen.“ (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland)

Millionen von Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, haben das Gefühl, dass ihnen wieder verstärkt Feindseligkeit entgegenschlägt. Aber warum? „Wegen der Flüchtlingspolitik und der Angst vor dem Fremden“, vermutet Ilhan. Anders sieht es ein Schulsozialarbeiter in einem Essener Gymnasium mit hohem Migrationsanteil. Die türkische Präsidentschaftswahl, bei der Erdoğan so gut bei den Deutschtürken abschnitt, habe die Gräben vertieft, meint er. „Viele Menschen fragen sich, warum die Erdoğans Politik besser finden als Parteien, die eher das hiesige Demokratieverständnis vertreten.“ Hinzu komme, dass er die Generation der heutigen Schüler als „nationalistischer und konservativer als ihre Eltern“ empfindet, „auch in Glaubensdingen“. Ein tiefer Seufzer: „Wäre es umgekehrt, würde mir das mehr Hoffnung machen.“

Der Islamismus-Experte Ahmad Mansour warnt davor, Fälle wie den aus Berlin, als ein Syrer einen Israeli mit einem Gürtel schlug, als „Einzelfälle“ abzutun. „Wir erleben in Deutschland seit rund zehn Jahren einen Radikalisierungsprozess bei vielen muslimischen Jugendlichen. Islamisten und Salafisten haben erfolgreich unter denen Propaganda betrieben, die nach Halt suchen. Da gehört Antisemitismus zum Programm.“ Ein derart reaktionärer und patriarchalischer Erziehungsstil könne dann auch Frauen treffen, die kein Kopftuch tragen. Oder Lehrerinnen, denen der Handschlag verweigert wird.

Wie weit die stumpfesten antisemitischen Klischees auch in ein vermeintlich immunisiertes Spektrum diffundieren, zeigte ein Facebook-Post von Ahmet M., Vorstandsmitglied der Karlsruher Grünen Jugend: „Natürlich geht die FDP gegen Antisemitismus vor. Aber nicht aus Nächstenliebe. Das Judentum ist eine reiche, religiöse Gesellschaft. Was wären Lindner & Co., wenn sie ihre Geldquellen nicht unterstützen würden?”

Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland erstellt gerade eine Studie zum Thema „Jude als Schimpfwort“, die im kommenden November vorgestellt werden soll. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass das Thema virulent ist: „Verbale Aggressionen vermischen sich immer mehr mit offener Gewalt und führen zu Verletzungen der psychischen und körperlichen Integrität der Betroffenen.“ Doch es gibt auch positive Signale: In Berlin gibt es eine Initiative junger Muslime, die sich gegen Antisemitismus engagiert und in Schulen und Universitäten Aufklärungsarbeit betreibt.

„Seit zwei, drei Jahren muss man als Muslim immer absurdere Fragen beantworten.“ (Yacin Z.)

Neustadt (Name geändert) hat 120.000 Einwohner, die Hälfte davon mindestens ein Elternteil, das nicht aus Deutschland stammt. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt fast komplett zerstört, dementsprechend schmucklos ist sie. Eine Stadt wie viele andere in Deutschland. Oder doch nicht? „Stadt der grünen Endzeit, ein Multikulti-Ghetto, das jede Chance auf eine bessere Zukunft längst verspielt hat“, schreibt ein neurechtes Internetportal über Neustadt, eine AfD-Hochburg. Belege für diese Befunde bleibt man schuldig. Was in Neustadt ebenfalls auffällt: Zwar hat jeder zweite Einwohner einen Migrationshintergrund, von den 40 Gemeinderäten trifft das aber auf keinen einzigen zu. Die Geschichte der Diskriminierung ist hierzulande auch eine der fehlenden Repräsentation.

„Von den vielen Konflikten, die es angeblich hier gibt, merke ich nur selten was“, sagt Yacin Z. (16), der Schülersprecher einer Neustädter Schule. „Aber seit zwei, drei Jahren muss man als Muslim immer absurdere Fragen beantworten“, sagt er. „Krank“ findet er beispielsweise die Posts nach Anschlägen: „Viele sehnen sich richtig danach, dass es ein muslimischer Fanatiker war, und Muslime triumphieren, wenn es keiner war. Nur mit den Opfern hat keiner Mitleid.“

Kurz darauf sagt die Direktorin der Schule einen bemerkenswerten Satz. So vielfältig die Schule mit ihren Dutzenden verschiedenen Nationalitäten heute sei, so facettenreich verliefen die Fronten der Diskriminierung. „Die Zeiten der deutschen Hegemonialkultur sind vorbei, Konflikte aus dem Elternhaus werden hier ausgetragen.“ Das bestätigt die schüchterne Schülerin aus der 6. Klasse, die davon berichtet, wie sie als Kurdin von türkischen Jungs gehänselt werde. Das bestätigt ebenso der 12-jährige Schüler mit arabischen Wurzeln, der ein gutes Zeugnis hat und sich anhören muss, dass es so etwas gar nicht geben dürfe: „Ein Muslim und dann so ein Streber ...“ Auch er wurde auf dem Pausenhof schon als „Jude“ beschimpft, von Muslimen wie ihm selbst.

„So pathetisch es klingen mag, aber die Erziehung zum demokratischen Menschen bleibt eine tägliche Aufgabe.“ (Schuldirektorin)

„Es gibt arabischfeindliche Juden und antisemitische Palästinenser, türkenfeindliche Kurden und kurdenfeindliche Türken“, sagt auch Schülersprecher Yacin. Oft laufe das als Frotzelei ab. „Jude“ sei aber nicht harmlos, ganz und gar nicht: „Gerade in den jüngeren Jahrgängen kursiert das als Beleidigung, die Kinder wissen aber nicht, was das bedeutet. Statt Jude hätten sie auch Arschloch sagen können.“ Yacin findet es schade, dass das Dritte Reich erst in der 8. und 9. Klasse durchgenommen wird. „Für die Kleineren ist Hitler nur eine Witzfigur mit Bart und komischer Sprache. Wenn sie früher mehr wüssten über den Holocaust, würden sie vielleicht anders reden.“

In ihrer Schule seien es oft die besseren Schüler, die mit rechten Thesen auffielen – auch aus Opposition zu den Lehrern, die sie als einseitig links empfänden, erklärt die Direktorin. Als ein Schüler den Propheten Mohammed als „kinderfickenden Warlord“ bezeichnete, empörten sich jedoch Christen, Atheisten und Muslime gleichermaßen. „Aber auch dieser Grundkonsens gegen Ausgrenzung kann kippen“, sagt sie mit nachdenklicher Miene: „So pathetisch es klingen mag, aber die Erziehung zum demokratischen Menschen bleibt eine tägliche Aufgabe.“