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Argentinien

„Ein Albtraum“

Argentiniens rechtspopulistischer Präsident Javier Milei hat Lehrkräften und Gewerkschaften den Kampf angesagt. Die Folgen schildert Miguel Duhalde, bei der argentinischen Bildungsgewerkschaft CTERA verantwortlich für Bildungsthemen.

Lehrkräfte haben in den vergangenen Monaten mehrfach gegen Versuche der Regierung demonstriert, die Budgets für öffentliche Bildung zu kürzen. (Foto: CTERA)
  • E&W: Herr Duhalde, Präsident Milei zeigte sich im Wahlkampf gerne mit einer Kettensäge – tatsächlich hat er gleich nach Amtsantritt das Budget für Bildung gekürzt. Wie geht er vor?

Miguel Duhalde: Mileis Devise lautet: Der Staat zieht sich zurück, der Markt soll es richten. Auch im Bildungsbereich würde Milei am liebsten alles privatisieren: Er verteilt Gutscheine an Eltern, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken. Gleichzeitig hat Milei die Budgets für öffentliche Schulen und Universitäten zusammengestrichen. In diese Einrichtungen gehen drei von vier Kindern und jungen Menschen. Heute, da jeder Zweite im Land arm ist, braucht es Bildung mehr denn je.

  • E&W: Milei hat auch das Bildungsministerium abgeschafft.

Duhalde: Er betrachtet Geld für Bildung oder Gesundheit nur als unnötige Ausgaben. Er hat die Zahl der Ministerien von 18 auf acht geschrumpft: Neben dem Gesundheits-, Frauen- oder Arbeitsministerium hat er auch das Bildungsministerium zu einer Behörde degradiert – sie alle unterliegen jetzt dem neuen „Ministerium für Humankapital“. Der Etatentwurf für 2025, den Milei dem Kongress im Oktober vorgelegt hat, sieht 50 Prozent weniger Geld für den Bildungssektor vor. Es gibt nach einem neuen Gesetz auch kein Recht auf Bildung mehr; Bildung ist jetzt nur noch eine Dienstleistung des Staates. Ein Albtraum.

  • E&W: Schränkt Mileis Regierung die Arbeit der Gewerkschaften ein?

Duhalde: Ja. Sie hat gleich nach Amtsantritt versucht, Bildung zu einem Teil der Daseinsfürsorge zu erklären, allerdings auf unterstem Niveau. Das hätte ihr erlaubt, das Recht der Lehrkräfte auf Streik einzuschränken und Proteste gegen diese fatale Bildungspolitik zu unterbinden. Das konnten wir zwar vor Gericht verhindern. Aber Milei versucht nun über andere Wege, unser Streikrecht auszuhöhlen – etwa mit Lohnabzügen an Streiktagen.

  • E&W: Vor 25 Jahren hat Ihre Gewerkschaft durchgesetzt, dass der Bund einen „Fondo nacional de incentivo docente“ – kurz FONID – einrichtet. Im März dieses -Jahres hat die Regierung Milei diesen Fonds gestrichen. Wie heftig ist dieser Schlag gegen Lehrkräfte?

Duhalde: Heftig. Ziel des Fonds war es, ein Mindestgehalt zu garantieren. Das half vor allem in den armen Provinzen des Landes. Ohne diese Mittel bekommen die Lehrkräfte nun 10 bis 20 Prozent weniger Gehalt.

  • E&W: Leiden auch andere Gruppen der Zivilgesellschaft unter solchen Angriffen?

Duhalde: Ja. Milei attackiert und kriminalisiert alle Organisationen und Institutionen, die für Demokratie und Menschenrechte, für Umweltschutz oder die Rechte von Frauen und Minderheiten eintreten. Im Grunde führt er einen Kulturkampf gegen freiheitliche und demokratische Rechte nicht nur in den Klassenzimmern öffentlicher Schulen, die er als Marxisten-Schmiede sieht, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Seine Regierung hat Sozialleistungen gestrichen, Renten gekürzt, das Arbeits- und Mietrecht beschnitten. Journalistinnen und Journalisten, die ihn kritisieren, beschimpft Milei wüst. Demonstrationen versucht er, mit Polizeieinsätzen zu verhindern.

„Mileis Devise lautet: Der Staat zieht sich zurück, der Markt soll es richten.“ - Der argentinische Gewerkschafter Miguel Duhalde zieht eine bittere Bilanz des ersten Regierungsjahres des Präsidenten Javier Milei. Und er befürchtet, dass sich die Lage für die Gewerkschaften und die öffentliche Bildung noch weiter verschlechtern wird. (Foto: CTERA)
  • E&W: Was meinen Sie konkret?

Duhalde: Mileis Regierung hat ein Sicherheitsprotokoll verabschiedet. Jetzt darf die Armee auch im Inland eingesetzt werden! Es gab solche Einsätze schon gegen uns, mit etlichen Verletzten. Auch die Polizei geht heute brutaler gegen Demonstrierende vor als früher. Manche Protestierende werden ohne Grund festgenommen und bleiben bis zu 30 Tagen in Haft. Damit versucht Milei, seine Gegner einzuschüchtern und Menschen zu disziplinieren. Zu Gewalt kommt es vor allem bei Demonstrationen in den Provinzen. Oder gegen Ende eines Protestzugs, nachdem die meisten Leute schon nach Hause gegangen sind. Dann fühlen sich Polizei und Militärs unbeobachtet.

  • E&W: Milei wurde mit 56 Prozent gewählt, auch von Lehrkräften und Studierenden. Spaltet das die Bildungsgewerkschaft?

Duhalde: Nein. Zwar hat geschätzt die Hälfte der Lehrkräfte, die an öffentlichen Schulen arbeitet, Milei gewählt. Viele haben wohl gehofft, ihr Gehalt künftig in US-Dollar ausgezahlt zu bekommen. Auch die Pandemie hat zur Unterstützung Mileis beigetragen: Wir hatten einen strengen Lockdown, das war für viele Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Studierende traumatisch, viele sind deswegen bis heute wütend – zumal damals Fotos von Regierungsvertretern auftauchten, die gemeinsam feierten. Damit verspielten sie viel Glaubwürdigkeit. Heute aber zeigen Umfragen, dass Mileis Wählerinnen und Wähler zunehmend unzufrieden mit seiner Regierungsführung sind.

  • E&W: Argentinien hat wie kaum ein anderes Land seine Vergangenheit – die Militärdiktatur von 1976 bis 1983 – aufgearbeitet. Doch Milei und seine Vizepräsidentin Victoria Villarruel leugnen, dass die rechte Militärjunta 30.000 Menschen gefoltert und getötet hat. Versucht die Regierung auch schon, die Verbrechen der Militärs aus den Geschichtsbüchern an Schulen und Universitäten zu löschen?

Duhalde: Bislang nicht, auch weil jede der 23 Provinzen im Land ihren Lehrplan selbst entwickelt. Ich denke schon, dass die meisten Argentinierinnen und Argentinier bislang hinter unserer Erinnerungspolitik stehen. Aber das könnte sich auch an den Schulen und Universitäten ändern, wenn die Milei-Regierung die Diktatur weiterhin so verharmlost und dieses neue Narrativ samt seiner dahinterstehenden Ideologie nur oft genug wiederholt. Kurz: Wenn sie nicht mehr zulässt, dass wir auch an den Schulen Lehren aus der Vergangenheit ziehen. 

Die Recherche für dieses Interview in Argentinien wurde durch ein Stipendium des Internationalen Journalistenprogramms (IJP) unterstützt.