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Durchlässigkeit

Dritter Bildungsweg

Für viele Expertinnen und Experten ist das deutsche Bildungssystem nicht durchlässig genug. Vor allem die Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung sei verbesserungswürdig.

Bildungsexperten kritisieren seit langem, dass die Übergänge zwischen schulischer, beruflicher und akademischer Bildung in Deutschland zu starr seien. (Foto: Pixabay)

Für den Erziehungswissenschaftler Professor Bernd Käpplinger von der Universität Gießen sollte „Bildung Orientierung geben, zum Austausch anregen und nach Abbrüchen Übergänge anbieten“. Lernen, auf Krisen zu reagieren, habe, so Käpplinger, nicht nur in der jetzigen, von der Corona-Pandemie bestimmten Situation einen hohen Stellenwert. Jugendlichen rät er, vielfältige Erfahrungen zu machen, sei es beim Jobben oder in der Freizeit.

„Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten steigt die Zahl der Jugendlichen mit und ohne Schulabschluss im sogenannten Grundbildungs- und Übergangssystem.“ (Dieter Dohmen)

Der Bildungsforscher Dieter Dohmen sieht die aktuelle Situation kritisch: „Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten steigt die Zahl der Jugendlichen mit und ohne Schulabschluss im sogenannten Grundbildungs- und Übergangssystem“, so die Studie „Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland in Krisenzeiten“, die Ende Oktober 2020 vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) veröffentlicht wurde. Für Dohmen, einer der Autoren der Studie, bedeutet dies, die „Kinder aus bildungsfernen Familien in den Blick zu nehmen“. Besonders für gering qualifizierte männliche Jugendliche werde die Berufssuche zum Problem, dem deutschen Bildungssystem gelinge es nicht, unzureichende familiäre und soziale Rahmenbedingungen zu kompensieren“.

Die Kompetenzen der Jugendlichen, die für eine qualifizierte Berufsausbildung benötigt würden, müssten, so Dohmen, erheblich verbessert werden. „Die Digitalisierung macht diese Kompetenzen nicht überflüssig, sondern verstärkt ihre Bedeutung noch.“ Viele Jugendliche hätten durchaus Kompetenzen, ihnen fehle aber ein Netzwerk bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. „Leistungsschwächere brauchen mehr Unterstützung.“

Der Arbeitswissenschaftler Eckhard Heidling setzt einen anderen Akzent: Er ermutigt Jugendliche, dem zu folgen, „was sie wirklich interessiert“, zu unternehmen, was sie bewegt und anspricht. Dies werde derzeit in den Schulen zu wenig gefördert. Den vorherrschenden Bildungsbegriff, der sich nur auf kognitive Bildungsinhalte in Schule und Studium bezieht, sieht er „als verhängnisvolle Verkürzung“. Die digitale Welt muss mit der analogen verbunden werden. Vorbildlich sei dies in der dualen Berufsausbildung und den dualen Studiengängen gelöst. Heidling, Mitarbeiter beim Institut für sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München, erforscht die Veränderung der Arbeitswelt.

„Berufliche Bildung führt zu Selbstbewusstsein.“ (Ansgar Klinger)

Der Sozialwissenschaftler Götz Richter wiederum beobachtet, dass „im Betrieb nicht nur ausgebildet, sondern auch ein kulturelles, informelles und handwerkliches Fundament gelegt wird“. Hier würden Kollegialität und die Zusammenarbeit gelernt, hinzu kämen eine „gesellschaftliche Grundbildung, Selbstbewusstsein und Solidarität und wichtige individuelle und kollektive Erfahrungen“. Eine wesentliche Ressource beim Strukturwandel und der Transformation sei die Gemeinsamkeit von Arbeitgebern und Gewerkschaften, den Sozialpartnern, betont Richter, der bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) arbeitet.

„Berufliche Bildung führt zu Selbstbewusstsein“, betont auch Ansgar Klinger, Vorstandsmitglied und Berufsbildungsexperte der GEW. Für ihn sollten die Betriebe offener für leistungsstärkere Jugendliche sein, die eine duale Berufsausbildung mit einem Studium kombinieren wollen. Bildungsziel sei, „die berufliche Bildung mit den Abschlüssen einer allgemeinen Bildung zu verbinden“.

Studieren ohne Abitur

Wie das funktioniert, kann man an den Beruflichen Gymnasien beobachten, die es bis auf Bayern in allen Bundesländern gibt und die je nach Bundesland auch Fachgymnasium oder Oberstufengymnasium genannt werden. Die Schulen bieten verschiedene Schwerpunkte an – von Sozial- und Gesundheitswissenschaften bis zu Technik und Wirtschaftswissenschaften. Eine besonders lange Tradition hat Baden-Württemberg, hier stellen die Absolventinnen und Absolventen dieser Gymnasien mittlerweile ein Drittel des Abiturjahrgangs.

Die Schweiz und Österreich seien bei der Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung schon weiter, betont Klinger. In Deutschland „bestehe der ungebrochene Reiz des Abiturs“. Klinger fordert, die Prestige-Unterschiede zwischen akademischer und beruflicher Bildung zu hinterfragen und die berufliche Bildung durch fortgesetzte Verbindung mit dem Berechtigungswesen aufzuwerten: Erst im März 2009 wurde von der Kultusministerkonferenz (KMK) der „Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne Hochschulzugangsberechtigung“ beschlossen, 2014 hat das letzte Bundesland dies gesetzlich umgesetzt.

Seit dem KMK-Beschluss sind die Studierendenzahlen von Nichtabiturienten gestiegen: 20.706 Studierende waren es im Jahr 2010, acht Jahre später 62.017. Spitzenreiter Hamburg lag im Jahr 2018 bei einem Anteil von 5,23 Prozent Studierender ohne Abitur, in Berlin waren es 3,05 Prozent, Bremen folgte mit 2,96 Prozent, Rheinland-Pfalz mit 2,73 und Nordrhein-Westfalen mit 2,71 Prozent. Das Schlusslicht bildete das Saarland mit 0,87 Prozent Anteil von Nichtabiturientinnen und -abiturienten.

Dritten Bildungsweg stärken 

Dieser sogenannte dritte Bildungsweg ist für GEW-Vorstand Klinger ein Erfolgsmodell, denn die „Nichtabiturienten gehören nicht zu den Risikogruppen bei den Studienabbrechern“. Dieser Weg soll gestärkt und seine Chancen stärker in der Öffentlichkeit dargestellt werden. Für Klinger sollten sich das allgemeinbildende Schulsystem stärker für Themen der Arbeitswelt und der Berufsausbildung öffnen sowie das Nachholen von Schulabschlüssen im sogenannten zweiten Bildungsweg erheblich erleichtert und dessen Struktur viel transparenter werden.

Fazit: Drei gleichwertige verschiedene Bildungswege könnten den Druck im Schulsystem erheblich abbauen und die Fähigkeiten aller Menschen jeden Alters besser fördern.