Pädagogik und Digitalisierung
Digitalisierung in a nutshell
Nicht nur Schülerinnen und Schüler sind im digitalen Zeitalter gezwungen, auf Smartphones zu lernen. Auch Lehrkräfte arbeiten nahezu ausnahmslos mit ihren privaten Geräten. Und holt man die Wirtschaft ins Boot, hapert es mit dem Datenschutz.
Wenn Miriam Weber ihren Unterricht vorbereitet, muss sie nicht nur überlegen, welches Fach dran ist. Sondern auch, welcher Weg der Kommunikation nun angesagt ist: die Lernplattform Discord, E-Mail, Moodle? Wird es eine Videokonferenz geben; bei Skype oder bei Zoom – übrigens beides Plattformen, von denen Datenschützer abraten? Auch dass sie erledigte Aufgaben farbig ausdrucken soll, kommt vor. „Viele von uns haben weder einen Laptop noch einen Drucker“, sagt die stellvertretende Schülersprecherin an einem Gymnasium in Rheinland-Pfalz (RLP), „die meisten arbeiten mit ihrem Smartphone.“ Dieses dürfen sie jedoch erst seit wenigen Wochen in der Schule benutzen, zuvor war das laut Hausordnung untersagt. Für digitalen Unterricht wiederum, sagt sie, stünden bis dato „nur zwei alte PCs in der Bibliothek“.
Digitalisierung in a nutshell – aus Sicht einer 17-Jährigen, die erklärt, über nichts sprächen sie in der Landesschüler*innenvertretung RLP so oft wie über das Durcheinander an ihren Schulen: „Jede und jeder macht es anders“, sagt sie, „unsere Lehrkräfte, unsere Schulen – niemand ist auf Online-Lehre vorbereitet.“
Von China lernen
Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor und um pointierte Statements nie verlegen, sagte es bei einer Online-Veranstaltung jüngst so: Deutschland habe „ein Schulsystem aus dem 19. und pädagogische Konzepte aus dem 20. Jahrhundert. Wir leben aber im 21. Jahrhundert“. Dazu legte er eine Reihe Grafiken aus der jüngsten PISA-Studie vor. Auf jeder einzelnen findet sich Deutschland im unteren Drittel des Vergleichs der Industriestaaten. Bei der Antwort auf die Frage, ob Lehrkräfte ausreichend Gelegenheit haben, den Einsatz digitaler Lehrmittel zu erlernen, geht es besonders tief hinab: bis auf den drittletzten Platz. Von China bis zu den Arabischen Emiraten, so Schleicher, könnte Deutschland in Fragen der Fort- und Weiterbildung noch viel lernen.
Wozu das nach Schließung der Schulen im März führte, erhob das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag der Wochenzeitung ZEIT und der Robert-Bosch-Stiftung in einem Schulbarometer Spezial: Zwei Drittel – 66 Prozent – der Lehrkräfte in Deutschland fühlten sich nach eigener Aussage nicht gut vorbereitet auf den Corona-induzierten Fernunterricht.
Privatleben und Arbeit schwer zu trennen
Die Anfang Juni vorgestellte jüngste Studie zum Digitalpakt Schule im Rahmen des GEW-Projekts „Bildung in der digitalen Welt“ bestätigt das: Mit nur 18 Prozent findet nicht einmal jede und jeder fünfte der Schulmitarbeitenden – also zumeist Lehrkräfte –, dass genügend Fortbildungsangebote zu Digitalisierungsthemen angeboten würden. Besucht hat mehr als die Hälfte (58 Prozent) in den vergangenen zwei Jahren eine solche. Die Diskrepanz erklärt Ilka Hoffmann, GEW-Vorstandsmitglied für Schule, so: „Lehrkräfte schauen sehr genau hin, ob sich die Inhalte einer Fortbildung auch auf die Unterrichtspraxis anwenden lassen.“
Nicht ahnend, welch plötzliche zusätzliche Aktualität den Daten zukommen würde, ließ die GEW in den Wochen bis zum 2. März den Stand an deutschen Schulen im Jahr nach der Verabschiedung des Digitalpakts erheben. Die für Mitglieder der Bildungsgewerkschaft repräsentativen rund 3.400 Antworten machen deutlich: Das Problem ist nicht die in der Öffentlichkeit oft beklagte mangelnde Digital-Affinität von Lehrkräften; mit 93 Prozent geben fast alle an, digitale Medien zu nutzen, mehr als jede und jeder Zweite mehrmals die Woche.
Allerdings stellen mehr als zwei Drittel (68 Prozent) fest, dass es ihnen schwerer fällt, Privatleben und Arbeit zu trennen. Wohlgemerkt: „vor Corona“. Seither dürfte sich das noch einmal verschärft haben. „Ich unterrichte pubertierende Schülerinnen und Schüler. Die geben auch schon mal nachts um drei ihre Antworten ab“, erzählt Konstantin Kieser, Lehrer an einer Sekundarschule in Berlin-Wedding und aktiv in der Jungen GEW Berlin.
Privatleben und Arbeit sind schon deswegen untrennbar, weil Lehrkräfte die Digitalisierung auf denselben Geräten voranbringen, auf denen sie sich zum Joggen verabreden und mit ihren Eltern oder Kindern chatten. 90 Prozent nutzen ihr privates Gerät auch dienstlich. In Unternehmen wie in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes sei „kaum vorstellbar, dass Arbeitsgeräte wie selbstverständlich Privatsache sind“, kommentiert Ansgar Klinger, GEW-Vorstandsmitglied für Berufliche Bildung und Weiterbildung.
Zu wenig Geld
Die GEW fordert eine öffentliche Finanzierung von Endgeräten für Lehrkräfte. Der Digitalpakt, dessen Umsetzung ohnehin aus diversen Gründen schleppend vorangeht, sieht diese kaum vor: Nur 20 Prozent der Gelder dürfen dafür ausgegeben werden. Außerdem sind nach Berechnungen der Bildungsgewerkschaft für eine adäquate digitale Ausstattung an Schulen weit mehr Gelder nötig als die zwischen Bund und Ländern vereinbarten 5,5 Milliarden Euro Digitalpaktmittel bis 2024: nämlich rund 20 Milliarden.
Corona-bedingt hinzugekommen ist ein Zusatzpakt in Höhe von 500 Millionen Euro, mit denen Endgeräte für Schülerinnen und Schüler angeschafft werden sollen. Das Geld soll über die Schulträger in die Schulen fließen; ein anfangs angedachter Weg, an sogenannte benachteiligte Familien 150 Euro auszuzahlen, wurde nach heftiger Kritik – zu wenig Geld, unklare Verteilung – nicht umgesetzt. Ob es, wie geplant, vor der Sommerpause zu Auszahlungen kommt, war bei Redaktionsschluss der E&W noch offen. Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe sagt, angesichts der aktuellen Lage sei entscheidend, dass „alle Schülerinnen und Schüler Zugang zu digitalen Endgeräten haben. Wir wissen ja, dass aktuell gar nicht alle erreicht werden können.“
„Eine Reihe der Schülerinnen und Schüler hat keine technischen Geräte, kein stabiles Internet und übrigens auch kaum digitales Know-how: Wie soll ich sie da gerecht benoten?“ (Konstantin Kieser)
Kieser, der in nicht gerade privilegierter Umgebung unterrichtet, erinnert daran, dass es im System Schule selbst in Ausnahmezeiten nicht nur um Kontakthalten geht. „Eine Reihe der Schülerinnen und Schüler hat keine technischen Geräte, kein stabiles Internet und übrigens auch kaum digitales Know-how: Wie soll ich sie da gerecht benoten?“ Wer es mit der Chancengleichheit ernst meine, müsse dafür Sorge tragen, dass Schulen, Schüler und Lehrkräfte mit Hard- und Software ausgestattet werden – und mit Kompetenzen, diese auch sinnvoll einzusetzen.
Um „digitale Schuldistanz“ zu vermeiden, wurde in Berlin bereits aus Landesmitteln in 9.500 Tablets investiert, die nun bedürftigen Schülerinnen und Schülern zugutekommen sollen. Das allerdings warf prompt ein anderes Problem auf: Wer fast 10.000 Apple-Geräte verteile, gebe „einer bestimmten Firma den Vorrang“, erklärt Tom Erdmann, Vorsitzender der GEW Berlin. Auch der Schutz der persönlichen Daten sei unklar.
Mehr als 20 Jahre nachdem der damalige Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) einen Vertrag mit der Telekom über den Anschluss Zehntausender Schulen ans Internet schloss, hat sich längst gezeigt: Das massenhafte Ins-Boot-Holen der Computerbranche, zwecks Einsparung staatlicher Mittel in Zeiten unterausgestatteter Kassen, ist nicht nur fragwürdig, weil es den Interessen von Konzernen Schultore öffnet. Es führt auch zu Problemen beim Datenschutz.
Der jüngste Datenschutz-Skandal ist erst wenige Wochen her: Auf einer mit acht Millionen Euro vom Bundesbildungsministerium geförderten Schulcloud des Hasso-Plattner-Instituts entdeckten Reporter des ARD-Magazins Kontraste mit ein paar Klicks Daten von Schülerinnen und Schülern.