Ganztag
Die Zeit läuft
Unter dem Titel „Qualität im Ganztag – Zukunft (mit)gestalten“ debattierten 70 Expertinnen und Experten der GEW in Göttingen, wie das Recht auf Ganztagsgrundschule hochwertig, aber auch zügig umgesetzt werden kann.
Die Zeit bis zur Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule läuft. „In 694 Tagen geht es los“ – Anja Bensinger-Stolze mahnte die Teilnehmenden gleich im ersten Satz, in den Blick zu nehmen, wie nah das Ziel, und wie viel noch zu tun ist. Für die GEW erklärte das für Schule verantwortliche Vorstandsmitglied: „Wir scharren mit den Hufen, nur an anderen Stellen passiert nicht viel.“ Immer noch müssen die Kommunen bis 2030 Hunderttausende Ganztagsplätze an Grundschulen schaffen. Bundesweit klafft zwischen Angebot und Bedarf eine Lücke von 9 Prozent, in den westlichen Bundesländern von 10 Prozent. Bensinger-Stolze: „Die Aufgaben sind gewaltig, die Kassen knapp bis leer – und die Beschäftigungsbedingungen zentral.“
An einer gemeinsamen Pädagogik arbeiten
Grund genug für die GEW, Anfang September zur zweiten Fachtagung „Qualität im Ganztag – Zukunft (mit)gestalten“ einzuladen; zudem fanden schon zehn Online-Tagungen zu dem Thema statt. Zu all diesen Veranstaltungen laden die GEW-Vorstandsbereiche Jugendhilfe und Sozialarbeit sowie Schule gemeinsam ein. Das mag banal klingen, ist aber nicht der Normalfall, wie man auf jeder auch noch so hochkarätigen Tagung erleben kann, in der Schulexpertinnen und -experten immer noch oft unter sich diskutieren. Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied für Jugendhilfe, kann ein Lied davon singen, wie sie auf dem gemeinsamem Ganztagskongress von Bundesfamilien- und Bundesbildungsministerium im März gleich mehrfach gefragt wurde, was „Lehrkräfte denn nun tun könnten“. Ihr Appell in Göttingen: „Es geht immer um das gleiche Kind.“ Für die beteiligten Berufsgruppen in der GEW bedeute das: „Wir sind nicht nur Lobbyisten nach außen. Wir müssen auch nach innen an einer gemeinsamen Pädagogik arbeiten. Welche Gelingensbedingungen, Zeit, Räume und Ressourcen braucht es, damit das Kind in den Mittelpunkt unseres gemeinsamen pädagogischen Handelns kommt und wir zusammen pädagogische Konzeptionen mit Leben füllen?“
„Die Organisation, die die Politik am meisten getrieben und gedrängelt hat, war die GEW.“ (Matthias Ritter-Engel)
Die Vorschläge, wie sich das gemeinsame Handeln verbessern lässt, sind zahlreich. Matthias Ritter-Engel aus dem Referat „Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern“ im Bundesfamilienministerium widersprach Stimmen, die gern mehr Zuständigkeiten für Kitas und Horte bei den Kultusministerien sehen würden. „Dann ist der Bund aus der Kindertagesbetreuung raus“, so Ritter-Engel. Er verwies auf die drei Milliarden Euro, die der Bund bis 2027 für den Ganztag bereitstellt – und darauf, dass der Rechtsanspruch nur mithilfe eines Bundesgesetzes, des Sozialgesetzbuches VIII, möglich wurde: „Ich bezweifle, dass er in allen 16 Schulgesetzen verankert worden wäre.“ Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) zum Ganztag indes fanden seine volle Zustimmung: Vom Blick auf die Bedürfnisse der Kinder über die Forderung nach kindgerechten Lern- und Lebensräumen bis zum Fokus auf die Qualität und die Kooperation der Professionen seien das „klasse Empfehlungen“. Das größte Lob sprach der Experte aber der GEW aus: „Die Organisation, die die Politik am meisten getrieben und gedrängelt hat, war die GEW.“
Gemeinsame Erklärung der Teilnehmer*innen der zweiten bundesweiten Tagung der GEW „Keinen Tag ohne – Qualität im Ganztag“ in Göttingen am 7. September 2024
GÖTTINGER DEKLARATION ZUM GANZTAG
Wir bekennen uns ausdrücklich zum Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung ab dem 1. August 2026. Das im September 2021 verabschiedete Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) ist ein bedeutendes bildungs-, familien- und sozialpolitisches Vorhaben von Bund, Ländern und Kommunen. Es soll das Recht auf qualitativ hochwertige Bildung, Erziehung und Betreuung sicherstellen und nicht nur den Anspruch aller Grundschulkinder auf einen Betreuungsplatz garantieren. Alle Kinder haben ein Recht auf exzellente Bildung und umfassende Teilhabe, um die eigenen Potenziale entwickeln und sich zu einer selbstbestimmten und emanzipierten Persönlichkeit entwickeln zu können.
Wir, als pädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte und sozialpädagogisches Personal, verstehen uns als Lern- und Lebensbegleiter*innen der Kinder. Die Grundschulzeit stellt eine der entscheidenden Phasen der Kindheit dar, weshalb wir die Politik zu entschiedenem Handeln im Sinne eines kindegerechten Ganztages auffordern. Die gesetzliche Verankerung des GaFöG im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) sowie der UN-Kinderrechtskonvention (UN KRK) stellen die Gesellschaft vor die Aufgabe, den allgemeinen Anspruch der Kinder auf Fürsorge, Autonomie und Entfaltung zu gewährleisten und allen Kindern das Recht auf gute Bildung, Erziehung und Betreuung zu ermöglichen. Das Wohl des Kindes muss dabei stets im Zentrum stehen.
Ein qualitativ hochwertiger Ganztag fördert Inklusion und ermöglicht allen Kindern, unabhängig von ihrem sozialen, ökonomischen oder kulturellen Hintergrund, gleiche Chancen auf Bildung, Entwicklung und Teilhabe. Daher müssen die Ganztagsangebote auf die vielfältigen Bedürfnisse aller Kinder eingehen, zur sozialen Kohäsion beitragen und die Eltern in ihre Arbeit einbeziehen. Der Ganztag bietet zudem einen wesentlichen Raum für die Demokratiebildung junger Menschen. Sie aktiv in die Gestaltung ihres Alltags einzubeziehen, ihnen Verantwortung zu übertragen und Strukturen der Partizipation auf allen Ebenen zu ermöglichen, erfordert offene und flexible Strukturen.
Wir fordern die Entwicklung eines gemeinsamen, bundesweiten Qualitätsverständnisses, das als Rahmen für die verbindliche Verankerung in allen Landesschulgesetzen gilt. Ein rein additiver Ansatz, ohne echte Integration der Strukturen, beraubt sowohl die Kinder als auch die Lehrkräfte und sozialpädagogischen Fachkräfte vielfältiger Möglichkeiten. Die Entwicklung ganzheitlicher pädagogischer Konzepte für eine umfassende ganztägige Bildung, Erziehung und Betreuung orientiert an den Bedürfnissen und Interessen der Kinder, muss alle Professionen miteinander verbinden. Die GEW sieht daher die gebundene Ganztagsschule als die effektivste Form, um allen Kindern ein pädagogisch abgestimmtes, anregendes sowie entspanntes Lernen und Leben zu ermöglichen.
Eine enge und systematische Zusammenarbeit zwischen Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ist entscheidend für die Qualität der Ganztagsangebote. Diese Kooperation muss auf lokaler Ebene durch gemeinsame Bildungsziele, klare Absprachen und professionsübergreifende Fortbildungen strukturiert und gestärkt werden. Auch die Ausbildung und Qualifizierung von Lehrkräften und sozialpädagogischen Fachkräften muss auf die Anforderungen des gemeinsamen ganztägigen Lernens und der multiprofessionellen Zusammenarbeit vorbereiten. Sozialpädagogische Fachkräfte benötigen attraktive Arbeitsverhältnisse, die tariflich abgesichert sind und Altersarmut verhindern.
Als Expert*innen des pädagogischen Alltags fordern wir die politisch Verantwortlichen auf, die notwendigen Standards in einem transparenten Verfahren unter Einbeziehung aller relevanten Akteur*innen zu erarbeiten. Dabei müssen Aspekte wie Personalschlüssel, Inhalte, Räumlichkeiten und Gesundheitsförderung ebenso priorisiert werden wie Investitionen in bauliche Maßnahmen. Die Sicherstellung einer langfristigen und bedarfsorientierten Finanzierung ist unabdingbar, um eine dauerhafte Qualität der Ganztagsangebote zu
gewährleisten.
Mit dieser Deklaration rufen wir die politisch Verantwortlichen dazu auf, entschlossen für die Rechte und Bedürfnisse der Kinder zu handeln, an der Qualität darf nicht gespart werden.
Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht
So soll es bleiben, stellte Siebernik klar: „Wir müssen ins Handeln kommen.“ In fünf Workshops wurde debattiert, was das bedeutet: Von der Frage einer effektiven Personalvertretung über die Professions- und Qualitätsentwicklung bis hin zur Steuerung und Koordination sowie dem Kinderschutz. Der Verweis auf den dramatischen Personal- und Fachkräftemangel fehlte fast nirgends. Und auch wenn Ritter-Engel die „Gesamtstrategie Fachkräfte für Kita und Ganztag“ des Bundes angerissen hatte, ist eine schnelle Lösung nicht in Sicht. Das gilt erst recht, seit eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie mit dem Titel „Flucht in die Teilzeit“ jüngst ergab, dass Kita-Beschäftigte lieber weniger als mehr arbeiten würden: 45 Prozent wünschen sich eine Reduzierung, nur 7 Prozent eine Aufstockung ihrer Stunden. Als Gründe werden die hohe Arbeitsbelastung, familiäre Betreuungspflichten und der Wunsch nach einer guten Work-Life-Balance genannt.
„Die gebundene Ganztagsschule ist die effektivste Form, um allen Kindern ein pädagogisch abgestimmtes und entspanntes Lernen und Leben zu ermöglichen“. (Göttinger Erklärung der GEW)
„Das Berufsfeld muss attraktiver werden – auch um konkurrenzfähig zu sein“, erklärte die GEW-Vorsitzende Maike Finnern bei der Tagung. Das Plenum verabschiedete abschließend eine „Göttinger Erklärung“, die zentrale Punkte festhält: „Attraktive Arbeitsverhältnisse, die tariflich abgesichert sind und Altersarmut verhindern“ werden ebenso gefordert wie ein „gemeinsames, bundesweites Qualitätsverständnis“. Letzteres sollte laut der Erklärung in allen 16 Landesschulgesetzen verankert werden. Außerdem solle ein qualitativ hochwertiger Ganztag „allen Kindern, unabhängig von ihrem sozialen, ökonomischen oder kulturellen Hintergrund, gleiche Chancen auf Bildung, Entwicklung und Teilhabe“ ermöglichen.
Der Anspruch, über den Ganztag mehr Chancengleichheit herzustellen, ist kein Selbstläufer, darauf weisen auch Studien immer wieder hin. Die GEW hält die gebundene Ganztagsschule für die effektivste Form, „um allen Kindern ein pädagogisch abgestimmtes und entspanntes Lernen und Leben zu ermöglichen“. Bei der Tagung machte Rita Panesar von der Hamburger Koordinierungsstelle Weiterbildung und Beschäftigung e. V. darauf aufmerksam, wie leicht gesagt und schwierig umgesetzt das hehre Ziel der Chancengleichheit sei. „Auch beim Gerechtigkeitsprojekt Ganztag steckt der Teufel im Detail“, erklärte die Anti-Bias-Trainerin. Ein Beispiel: Selbst bei einem rhythmisierten Angebot drohe die Gefahr, dass Deutschkurse für Kinder mit anderen Herkunftssprachen parallel zu anderen wichtigen und tollen Angeboten liegen. Panesar appellierte, „Verantwortungsgemeinschaften“ zu bilden, die allgegenwärtige Diskriminierung zu erkennen und sich von dort aus auf den Weg zu machen. Dazu gehöre auch, eigene Vorurteile – gegenüber Schülerinnen und Schüler wie Eltern – kritisch in den Blick zu nehmen.