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Ganztag

„Die Zeit drängt“

Ab 2025 sollten alle Grundschulkinder einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung haben. Doch wegen des dafür nötigen Ausbaus von Betreuungsplätzen und der steigenden Kosten für Fachpersonal soll es nun einen Stufenplan bis 2029 geben.

Guter Ganztagsunterricht lebt von der Kooperation aller Beteiligten. Im Idealfall sind die Nachmittagsangebote in das Schulcurriculum integriert. (Foto: Eckhard Stengel)

E&W sprach mit Dieter Eckert, Referent für Jugendsozialarbeit, Jugendhilfe und Schule im Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO), über den noch steinigen Weg zum Ganztagsförderungsgesetz. 

  • E&W: Herr Eckert, Bundestag und Bundesrat haben beschlossen, dass sich der Bund mit 3,5 Milliarden Euro an den Investitionen für den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen beteiligt. Reicht das?

Dieter Eckert: Nein, denn wir brauchen bis 2029 über 1,1 Millionen neue Ganztagsplätze. Davon müssten über 200.000 im Hort neu eingerichtet werden, in der gebundenen Ganztagsschule knapp 170.000 und in der offenen Ganztagsschule knapp 760.000. Dieser Ausbau verursacht sehr hohe Investitionskosten – geschätzt bis zu 7,5 Milliarden Euro. Der Bund ist bislang bereit, zwei Milliarden als Basismittel plus zusätzliche 1,5 Milliarden Euro als Bonusmittel aus dem Corona-Konjunkturpaket beizusteuern. Diese Gelder haben die Parlamentarier jetzt in ein Sondervermögen überführt, das bis Ende 2028 ausschließlich für die Investitionen in neue Ganztagsplätze zur Verfügung steht.

  • E&W: Der Großteil darf erst ausgezahlt werden, wenn das Ganztagsförderungsgesetz verabschiedet ist. Warum?

Eckert: Der Bund besteht auf diesem Junktim. Wir finden das – genau wie die GEW – gut, weil sonst die Gefahr besteht, dass die Gelder nur abgerufen werden, ohne dass eine Kontrolle über deren zweckentsprechende Verwendung existiert.

  • E&W: Der Bund macht sich für Qualitätsstandards stark?

Eckert: Ja, und das ist wichtig. Die drei Faktoren Einlösung von Mindestqualitätsstandards, Fachkräftegebot und geregelte Zusammenarbeit von Schule und Eltern gelten als klare Erfolgskriterien für die Umsetzung eines qualitätsvollen ganztägigen Rechtsanspruchs. Sie sollten allerdings gesetzlich verbindlicher geregelt werden.

  • E&W: Wieso ist die Qualität so wichtig?

Eckert: Einheitliche Qualitätskonzepte sind entscheidend, um Chancengleichheit für jedes Kind in der Ganztagsbetreuung herzustellen und eine gelingende Integration vor allem auch für jene zu ermöglichen, die aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Elternhäuser nicht so gute Startbedingungen haben. Zu oft gibt es in Ganztagsangeboten nur eine unprofessionelle Verwahrung, pädagogische Konzepte sind nicht immer die Regel.

  • E&W: Im Herbst wurde eine Verwaltungsvereinbarung formuliert, um 750 Millionen Euro sofort an die Länder auszuzahlen. Wozu?

Eckert: Für einen beschleunigten Einstieg in den Ausbau der Ganztagsplätze – etwa um Baumaßnahmen zu planen, für die Ausstattung, Spielgeräte und Hygienemaßnahmen. Diese Mittel sind nicht an die Zustimmung der Länder zum Rechtsanspruch gebunden und können verwendet werden, nachdem alle Länder die Verwaltungsvereinbarung unterzeichnet haben.

  • E&W: Baden-Württemberg verweigert das und blockiert die Auszahlung. Warum?

Eckert: Weil das Land befürchtet, seine flexiblen Nachmittagsangebote nicht fortführen zu können, die es per se für gut hält. Dabei hat das Land keinen Überblick, geschweige denn eine Steuerungsmöglichkeit. Ich finde es richtig, dass der Bund dagegenhält und sagt: Ein Rechtsanspruch muss mit Qualität verbunden sein, wir können nicht zulassen, dass jede Kommune macht, was sie will. Eine gewisse Rahmung muss gewährleistet sein.

  • E&W: Sonst entscheidet jede Kommune selbst, was Qualität bedeutet?

Eckert: Der Bund will nachvollziehen können, dass vergleichbare Mindeststandards für die Ganztagsangebote für alle Angebotsformen in einem Bundesland gelten. Und dies kann nur das Sozialgesetzbuch (SGB) VIII für Angebote der Jugendhilfeträger bzw. die Schulaufsicht für Angebote in schulischer Trägerschaft gewährleisten.

  • E&W: Auch über die Beteiligung des Bundes an den laufenden Betriebskosten gibt es noch Streit.

Eckert: Das ist einer der großen Knackpunkte. Der Bund hatte im Herbst 12 Prozent pro Jahr für die jährlich anfallenden Personal-, Fortbildungs- und Ausstattungskosten angeboten. Die Länder wollten mindestens 50 Prozent übernommen wissen. Natürlich sagen die Menschen: Bei Corona liegt das Geld locker in der Hand. Aber man muss sehen, dass es sich um eine Dauerinvestition handelt. Geschätzt geht es um 4,5 Milliarden Euro im Jahr.

  • E&W: Die Länder fordern mehr Unterstützung – zu Recht?

Eckert: Die Haushalte der Kommunen sind schon ausgeblutet – dann kam Corona hinzu. Wenn sie jetzt noch die Ganztagsbetreuung mit großen Anteilen mitfinanzieren sollen, ist das in jedem Bundesland eine Herausforderung.

  • E&W: Und Qualität kostet Geld.

Eckert: Viel Geld. Deshalb sagen die Länder zum Bund: Wenn du Qualität vorschreibst, dann musst du sie auch zahlen. Im Kita-Bereich werden die laufenden Betriebskosten vom Bund mit knapp einer Milliarde Euro im Jahr bezuschusst.

  • E&W: Jetzt soll eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe die Finanzfragen endgültig klären …

Eckert: … und sie wird über den Centbetrag hinterm Komma feilschen. Denn die Länder werden Druck ausüben. Ich vermute aber, dass es bis zum Inkrafttreten des Rechtsanspruchs im vollen Umfang weitere Bundeshilfen für Investitionen geben wird. Die Zeit drängt, wenn man den Rechtsanspruch noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen will.

  • E&W: Sonst steht das Schicksal der Ganztagsbetreuung in den Sternen?

Eckert: Wir wissen nicht, wer die neue Bundesregierung stellen wird, und vielleicht hat Corona uns weiter im Griff. Die Schulden, die jetzt in Milliardenhöhe gemacht werden, sind durch eine Haushaltskonsolidierung wieder einzufangen.

  • E&W: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat erklärt, sie sei hoffnungsvoll, diese Hürde auch noch zu nehmen. Sind Sie auch optimistisch?

Eckert: Wir müssen hoffungsvoll bleiben. Die Große Koalition kann es sich nicht leisten, das Projekt scheitern zu lassen. Der Staat hat eine Verpflichtung gegenüber der nachwachsenden Generation und gegenüber den Eltern. Wenn die Wirtschaft nach Corona wieder hochfährt, dann sollte die Ganztagsbetreuung vernünftig geregelt sein, so dass aus dem vollen Arbeitnehmerpotenzial geschöpft werden kann.

  • E&W: Glauben Sie, dass es ein Qualitätsgebot geben wird?

Eckert: Es ist immer nur die Rede von Geld, Geld, Geld. Aber über den eigentlichen Gesetzestext, den das Ministerium angeblich seit Monaten in der Schublade hat, haben wir noch nichts gehört. Ich erwarte aber nicht, dass es in der gesetzlichen Regelung einen dezidierten Hinweis auf konkrete Qualitätskriterien geben wird. Das wird im
Weiteren über ein Guter-Ganztag-Gesetz zu verhandeln sein.

  • E&W: Wir haben ja bereits das sogenannte Gute-Kita-Gesetz als Vorbild …

Eckert: … und es gibt eine fachliche Verbindung: In der Lebensbiografie der jungen Menschen von der Geburt bis zum Übergang in die Sekundarstufe I handelt es sich um eine wichtige Entwicklungsphase, um Benachteiligungen zu verhindern. Da spielt die Ganztagsbetreuung eine große Rolle. Auch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt sie ein Hauptanliegen.

  • E&W: Wie geht es 2021 weiter?

Eckert: Wir rechnen mit einer zügigen Vorlage des Referentenentwurfs zu einem Ganztagsförderungsgesetz. Dann gibt es ein stark verkürztes Beratungs- und Beteiligungsverfahren, in dem die zivilgesellschaftlichen Akteure wie GEW und die Wohlfahrtsverbände Stellung nehmen. Dieser sehr enge Zeitplan baut Druck auf, den wir ablehnen. Hier liegt ein wichtiges bildungspolitisches Versprechen vor, bei dem alle Akteure gewissenhaft beteiligt werden müssen. So etwas kann man nicht im Hauruck-Verfahren durchsetzen. Wir haben uns aber schon gut vorbereitet.

  • E&W: Rechnen Sie damit, Ihre Forderungen durchzusetzen?

Eckert: Wir Verbände verstehen uns als Anwalt der Eltern und Kinder, und die GEW ja auch ganz stark als Anwältin der Lehrkräfte und sozialpädagogischen Beschäftigten. Was wir zusammen fordern, ist die oberste Messlatte. Wir rechnen mit Zwischenschritten und vorläufigen Abstrichen, weil es etwa am Personal im Schul- und Betreuungsbereich fehlt. Aber wir müssen ein Ziel haben und für eine gute Vision kämpfen.

Dieter Eckert, Referent für Jugendsozialarbeit, Jugendhilfe und Schule im Bundesverband der AWO (Foto: D. Eckert)