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70 Jahre Grundgesetz

Die vorauseilende Verfassung

Bei seiner Entstehung war das Grundgesetz kein Abbild des „Volkswillens“. Es war ein Auftrag an die Deutschen, sich Demokratie anzueignen.

Foto: Pixabay / CC0

Dass sie ihr 80. Lebensjahr erreichen konnte, wäre Irmgard K. ohne das Wirken des Parlamentarischen Rates kaum vergönnt gewesen. Im Juli 1947 hatte das Landgericht in Koblenz die damals 27-Jährige nach rheinland-pfälzischem Recht als zweifache Kindsmörderin zum Tode verurteilt; im März 1948 lehnte die Landesregierung ihr Gnadengesuch ab. Es dauerte indes noch zehn Monate, bis für die Strafvollzugsanstalt in Mainz eine Guillotine beschafft worden war, und noch länger, bis Mitte Mai 1949, zog sich die Lieferung des entscheidenden Bauteils – des Messers – hin. Bevor der Scharfrichter aber zur Tat schreiten konnte, trat am 24. Mai 1949 das Grundgesetz in Kraft, dessen Artikel 102 besagt: Die Todesstrafe ist abgeschafft.

Es ist eine jener Stellen im Verfassungstext, in denen sich die Umstände seiner Entstehung spiegeln. Was sich die „Mütter und Väter“ des Grundgesetzes vorgenommen hatten, war nicht weniger als der Gegenentwurf zum NS-Staat, dessen zivile Gerichtsbarkeit allein 12.000 Todesurteile hatte vollstrecken lassen. Zugleich stand ihr Werk in mancherlei Hinsicht quer zum damaligen „Volkswillen“, der, um im Beispiel zu bleiben, zu 80 Prozent die Todesstrafe energisch befürwortete.

Repräsentativ für die Bevölkerung, die mit dieser Verfassung leben sollte, war weder der Parlamentarische Rat, der zu 54 Prozent aus einstigen Gegnern der Nazi-Diktatur bestand, während 57 Prozent der Westdeutschen den Nationalsozialismus noch für eine gute, leider suboptimal realisierte Idee hielten, noch waren es manche seiner Beschlüsse. Das Grundgesetz bildete die damalige gesellschaftliche Wirklichkeit nicht ab. Es eilte ihr voraus.

Druck der West-Alliierten

Gemessen an historischen Vorbildern waren die Modalitäten seiner Entstehung unüblich. Anders als in der Revolution von 1848 oder bei der Gründung der Weimarer Republik 1919 gab es keine aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Nationalversammlung. Der Parlamentarische Rat, der am 1. September 1948 in Bonn die Arbeit aufnahm, bestand aus 65 Delegierten der westdeutschen Landtage sowie fünf nicht stimmberechtigten Vertretern West-Berlins. Das Ergebnis seiner Beratungen war weder Gegenstand einer Volksabstimmung, noch durfte es den Rang einer „Verfassung“ beanspruchen. Ohnehin hatten sich führende westdeutsche Politiker ohne viel Begeisterung auf das Vorhaben eingelassen.

Es waren US-Amerikaner, Briten und Franzosen, die, nachdem sie die Hoffnung aufgegeben hatten, sich mit der Sowjetunion über die Zukunft des gesamten Deutschland einigen zu können, darauf drängten, die von ihnen kontrollierten Besatzungszonen staatlich neu zu organisieren. Im Sommer 1948 beauftragten sie damit die westdeutschen Ministerpräsidenten und machten für eine künftige Verfassung inhaltliche Vorgaben: Demokratie, Föderalismus, Garantie individueller Rechte und Freiheiten. Die Länderchefs sträubten sich zunächst. Sie wollten ein einheitliches Deutschland, keinen „Weststaat“.

Als die Besatzungsmächte insistierten, aber auch unter dem Eindruck der sowjetischen Blockade West-Berlins, ließen sie sich umstimmen. Im August 1948 versammelten sich auf der bayerischen Insel Herrenchiemsee 33 Experten und Politiker zu einem Verfassungskonvent, der binnen zwei Wochen einen 149 Artikel umfassenden Entwurf erarbeitete.

In Herrenchiemsee ging es zunächst um das Selbstverständnis der künftigen Republik. Eine Gruppe um den bayerischen Staatskanzleichef Anton Pfeiffer (CSU) war der Ansicht, dass die deutsche Staatlichkeit mit der Kapitulation der Wehrmacht erloschen sei und neu konstituiert werden müsste. Dies sollte auf der Grundlage souveräner Länder geschehen, die Teile ihrer Kompetenzen an den Bund delegierten.

Die Gegenposition vertrat der sozialdemokratische Staatsrechtler Carlo Schmid, der von der Fortexistenz des Deutschen Reiches ausging. Dieses ließ sich bis auf Weiteres freilich nur in seinen westlichen Teilen auf freiheitlicher Grundlage reorganisieren. Was dabei entstand, konnte nach Schmids Auffassung kein Nationalstaat im herkömmlichen Sinne sein, weil es keine westdeutsche Staatsnation gäbe, sondern ein „Staatsfragment“, ein Provisorium, dem man folglich keine Verfassung, sondern lediglich ein vorläufiges „Grundgesetz“ mit auf den Weg geben konnte. Diese Richtung, der es im beginnenden Kalten Krieg darum ging, die Perspektive einer späteren deutschen Einheit offen zu halten, setzte sich durch.

Streit um Föderalismus

Die föderale Ausgestaltung der Bundesrepublik war im Parlamentarischen Rat ebenfalls umstritten. Dabei neigten Sozialdemokaten und Liberale eher zentralstaatlichen, die Unionsparteien eher dezentralen Lösungen zu. Zum Eklat kam es im März 1949 in der Debatte um die Finanzverfassung. Als sich eine Tendenz abzuzeichnen schien, die Steuerverwaltung allein dem Bund zuzuordnen, legten die West-Alliierten, die an einer starken deutschen Zentralgewalt kein Interesse hatten, ihr Veto ein.

Konsens im Parlamentarischen Rat war, dass es in Deutschland nie wieder ein Regime geben durfte, dessen Maxime lautete: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Den einzelnen Menschen gegen Ansprüche des Staates zu stärken, war die Konsequenz aus der Erfahrung des Dritten Reiches. So erhielten Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3) und individueller Zugang zum Asyl (Art. 16 Abs. 2, heute Art. 16a) Verfassungsrang. Zudem wurden die Grundrechte nicht als wohlklingende Absichtserklärungen, sondern als „unmittelbar geltendes Recht“ (Art. 1 Abs. 3) festgeschrieben.

Auch ging es darum, nie wieder eine deutsche Demokratie scheitern zu lassen. Der Parlamentarische Rat baute Sicherungen gegen politische Instabilität ins Grundgesetz ein, mit denen die Verfassung von 1919 in Kernpunkten korrigiert wurde. Das Weimarer Nebeneinander von Parlamentarismus und Präsidialsystem wurde zugunsten des Parlaments aufgelöst, die Rolle des Staatsoberhaupts auf repräsentative Funktionen zurückgestutzt. Nicht zuletzt sollte die „Ewigkeitsgarantie“ (Art. 79 Abs. 3), mit der unter anderem die in Artikel 1 bis 20 niedergelegten Grundrechte und Verfassungsprinzipien für unveränderlich erklärt wurden, drohender Instabilität vorbeugen.

In gewissem Sinne korrigierte auch der Gleichberechtigungssatz ein Defizit der Weimarer Verfassung. „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“, hatte es dort geheißen. Damit war Frauen politische Teilhabe garantiert, mehr aber nicht. Im Familienrecht hatte der Satz keine Wirkung. Im Parlamentarischen Rat war es die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert, die deswegen die wesentlich weiter reichende Formel propagierte: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ (Art. 3 Abs. 2)

Sie stieß auf massiven Widerstand. Es bedurfte einer dreimaligen Debatte im Hauptausschuss und einer Protestkampagne, an der sich Zehntausende Frauen mit Eingaben an den Parlamentarischen Rat beteiligten, um Selberts Satz im Januar 1949 im Textentwurf zu verankern. Gesellschaftlich wirksam war er damit noch lange nicht. „Die mangelnde Heranziehung von Frauen zu öffentlichen Ämtern und ihre geringe Beteiligung in den Parlamenten ist schlicht Verfassungsbruch in Permanenz“, urteilte die 1986 verstorbene Selbert gegen Ende ihres Lebens.

Mittlerweile war immerhin eine Frauenbewegung entstanden, die der Entwicklung nachhalf. Wie es überhaupt immer wieder gesellschaftlichen Protests bedurfte, um Verheißungen des Grundgesetzes mit Leben zu erfüllen. Nicht zuletzt diesem jahrzehntelangen Prozess demokratischer Aneignung war es zu verdanken, dass sich das Provisorium von 1949 auch im vereinten Deutschland als bestandskräftig erwies.