Sozialstaat
Die Sprache des Neoliberalismus
Der Kampf um die gesellschaftliche Arbeit und wer was davon hat, ist immer auch ein Kampf um die Deutungshoheit – und damit um Sprache. Ein Überblick über gängige Begriffe, die kleine Welterklärungen transportieren.
Die Schuldenbremse verdankt ihren guten Klang dem schlechten Image von Schulden, insbesondere staatlicher Schulden. Dieses schlechte Image ist eigentlich erstaunlich, schließlich ist die Aufnahme eines Kredits zunächst ebenso gängig wie unschuldig. Eine zu vermeidende Gefahr wird der Kredit nur aus der Perspektive des Schuldners, der die geliehene Summe zurückzahlen muss, inklusive Zinsen, der also einen Geldabfluss zu erwarten hat.
Das ist aber nur eine Seite des Kredits, die zwei anderen werden verschwiegen. Schließlich ist er nicht nur rückzahlbare Schuld, er ist auch eine Summe, die man heute zur Verfügung hat – man hat also mehr als vorher und kann das Geld zum Beispiel investieren. Zudem ist die Schuld der Leihenden das Vermögen des Verleihers: Wer der Bundesregierung 100 Euro leiht, erhält eine Staatsanleihe, ein Wertpapier – ein Sparvehikel. Nahezu das gesamte Sparvermögen der Deutschen besteht daher aus Schulden: aus Staatsanleihen, aus Unternehmensanleihen und aus Geldern, die wir den Banken geliehen haben und die auf Tagesgeld- oder Girokonten unsere Guthaben ausmachen.
Vermögende gegen Arme
Daraus folgt unter anderem, dass staatliche Sparsamkeit keine Frage der Generationengerechtigkeit ist. Denn zum einen erben die künftigen Generationen nicht nur die staatlichen Schulden, sondern auch die mit ihnen finanzierten Brücken und Schulen plus Wirtschaftswachstum. Zum anderen erben sie auch die Forderungen an den Staat, also die Vermögen in Form von Staatsanleihen. Es stehen also nicht Junge gegen Alte. Sondern Vermögende gegen Arme.
Inzwischen hat die Schuldenbremse an Beliebtheit verloren, Schulden gelten als unvermeidlich – wobei hart darum gekämpft wird, was sie finanzieren sollen. Keinesfalls, so heißt es, dürften sie in den Konsum fließen, denn der bedeute Verbrauch, die Zerstörung von Werten – auch der Sozialstaat läuft unter Staatskonsum. Das schlechte Image des Konsums verwundert, schließlich macht er die Hälfe der Wirtschaftsleistung aus und sollte eigentlich der letzte Zweck des Wirtschaftens sein – wozu sonst sollte die ganze Zeit gearbeitet werden?
Wer als Patient einmal die Effizienzsteigerungen in Krankenhäusern erleben musste, der dürfte sich weniger nach noch mehr Effizienz gesehnt haben, sondern eher nach Effektivität der Pflege.
Das Gegenstück zum schädlichen Konsum ist die Investition. Denn sie steht nicht für Verbrauch, sondern für das Schaffen neuer Werte, weswegen sie auch Zukunftsinvestition genannt wird. Ihrem Ruf zugute kommt, dass sich alle etwas anderes darunter vorstellen können. Aber Vorsicht: Ökonomisch hat die Investition eine klare Bedeutung: mehr schaffen. Wer 100 Euro investiert, will 110 Euro zurückbekommen, andernfalls war es eine Fehlinvestition. Die Investition verlangt Rendite, in Euro und Dollar. „Wir können die besten Autos der Welt bauen“, sagte 2024 Volkswagen-Chef Oliver Blume, „aber das spielt keine Rolle, wenn wir damit kein Geld verdienen.“
Das bedeutet: Was sich für die Investorin nicht rentiert, verdient kein Geld, denn es ist nicht effizient. Auch die Effizienz ist zumeist nur ein schönerer Name für Rentabilität. Wer als Patient einmal die Effizienzsteigerungen in Krankenhäusern erleben musste, der dürfte sich weniger nach noch mehr Effizienz gesehnt haben, sondern eher nach Effektivität der Pflege. Denn Effektivität bedeutet, das Richtige im ausreichenden Ausmaß zu tun – und nicht möglichst billig und schnell.
Die Kosten der Arbeit sollen im Verhältnis zu ihrer Leistung sinken.
Die Investition schafft mehr, sie dient dem Wachstum, an dem laut Politikern der Wohlstand hängt, wobei unklar bleibt, warum dieser Wohlstand gefährdet sein soll, wenn er nicht oder nur schwach wächst. Gemessen wird er am Bruttoinlandsprodukt (BIP), einem Maßstab, der viele Nachteile hat, vor allem zwei: Das BIP und sein Wachstum sagen nichts darüber aus, wie „unser“ Wohlstand verteilt wird, wer also was von ihm hat. Daneben schweigt das BIP auch darüber, mit welchem Aufwand an Umweltverbrauch und Arbeitszeit es entsteht – wie viel Mühe seine Erwirtschaftung also benötigt und welche Schäden sie anrichtet. Im Namen des Wachstums wird heute daher weniger Klimaschutz und mehr Arbeit verlangt.
Die Arbeit soll mehr werden, heißt es derzeit, vor allem aber soll sie produktiver werden. Produktivität benennt zunächst nur ein abstraktes Aufwands--Ertrags-Verhältnis. Dahinter verbirgt sich jedoch schlicht: Die Kosten der Arbeit sollen im Verhältnis zu ihrer Leistung sinken. Dadurch geraten auch die sogenannten Lohnnebenkosten ins Visier, ein Begriff, der den Anschein erweckt, die Finanzierung des Sozialstaates sei eine bloße Nebensache, die zum Lohn eigentlich nicht gehört, also nicht Teil der regulären Lohnkosten sei. Dabei finanzieren diese „Neben“kosten den Erhalt jener Lohnabhängigen, die gerade nicht oder nicht mehr arbeiten können. Sie sorgen dafür, dass die Menschen gesund und gebildet dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, und sie tun einiges für den sozialen Zusammenhalt. Keine Nebensachen. Aus Unternehmenssicht allerdings handelt es sich dabei nur um Soziallasten, die laut CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann eine Sozialstaatsbremse nötig machen.
Dass den Arbeitslosen die Anreize zur Arbeitsaufnahme fehlen, ist ein weiterer Klassiker des Neoliberalismus, der dadurch ein Marktergebnis – die Arbeitslosigkeit – zu einer Charakterfrage macht.
Sinkende Steuer- und Soziallasten sind im Neoliberalismus nötig, um die Investitionsanreize zu verbessern. Diese Anreize entstehen, wenn den Unternehmen mehr Gewinn in Aussicht gestellt wird. Ganz anders ist das bei den Arbeitsanreizen, beispielsweise bei Arbeitslosen, die dadurch verstärkt werden sollen, indem man jenen Sozialleistungen entzieht. Unternehmer erhalten Belohnungen, die Lohnabhängigen Strafe.
Dass den Arbeitslosen die Anreize zur Arbeitsaufnahme fehlen, ist ein weiterer Klassiker des Neoliberalismus, der dadurch ein Marktergebnis – die Arbeitslosigkeit – zu einer Charakterfrage macht: Erfolg und Misserfolg werden auf das Individuum geschoben, das es an Eigenverantwortung hat fehlen lassen oder an Motivation, die heutzutage wieder als Fleiß gelobt wird, also als selbstloser Wille zum Arbeitseinsatz.
„Wir wollen eine Agenda für die Fleißigen“, sagte Christian Lindner (FDP) im Wahlkampf. Laut Ex-Kanzler Olaf Scholz (SPD) ist „die Sozialdemokratie die Stimme der Fleißigen“, und CDU-Chef Friedrich Merz befand, man müsse „die Tugenden wieder wertschätzen: Leistungsbereitschaft, Fleiß, Anstand“. Mit Leistungsbereitschaft leistet jeder einen Beitrag zur eigenen Beschäftigungsfähigkeit, einer Erfindung des ehemaligen VW-Personalchefs Peter Hartz. Mit diesem Begriff machte Hartz die Lohnarbeit zur schlichten Beschäftigung, die man quasi als Anlage in sich trägt und die aktiviert werden muss – andernfalls säße man ja nur unbeschäftigt herum.
Die Annahme, das Markteinkommen spiegele die zuvor erbrachte Leistung wider, ist wahrscheinlich eine der wirkmächtigsten Ideologien des Neoliberalismus.
So scheiden Unternehmen und Politik die Menschen in Leistungsträger und Leistungsschwache, wobei der Maßstab von Leistung ein sehr eindeutiger ist: nicht die konkrete Arbeit, nicht Zeit und Anstrengung und Mühe im Büro oder am Band, sondern schlicht das Marktergebnis: das Einkommen des Menschen. Die Logik dabei ist simpel. Wer viel verdient, hat wohl viel geleistet, andernfalls hätte er ja nicht so viel verdient – weswegen ein erfolgreicher Aktienspekulant viel mehr Leistung „trägt“ als eine Erzieherin. Die Annahme, das Markteinkommen spiegele die zuvor erbrachte Leistung wider, ist wahrscheinlich eine der wirkmächtigsten Ideologien des Neoliberalismus und Grundlage einer Gerechtigkeit, die es nicht gibt: der Leistungsgerechtigkeit. Denn das Einkommen zeigt nicht den Beitrag, den der Einzelne zum Gesamtergebnis geleistet hat, sondern nur den Anteil, den er daraus erhält.