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Gastkommentar

Die Künste ernst nehmen

Kulturelle Bildung hat heute Hochkonjunktur. Sie sollte jedoch nicht mit Erwartungen und Anforderungen überfrachtet werden. Und vor allem dürfen die Akteure der kulturellen Bildung ihren Gegenstand, die Künste, nicht aus dem Blick verlieren. 

Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates (Foto: Tim Flavor)

Das Schattendasein der kulturellen Bildung hat bereits seit einigen Jahren glücklicherweise ein Ende gefunden. Im Gegenteil, kulturelle Bildung hat heute Hochkonjunktur. Früher waren die künstlerischen Schulfächer – Kunst, Musik, Theater – randständig. Gut, wenn es sie gab, aber in der pädagogischen Hierarchie rangierten sie weit unten. Schön war es, wenn der Schulchor zum Willkommen oder zur Verabschiedung der Schülerinnen und Schüler sang. Gut anzusehen war es, wenn im Kunstunterricht gemalt und gebastelt und mit den Ergebnissen die Aula gestaltet wurde. Zum Glück sind diese Zeiten, in denen kulturelle Bildung nur schmückendes Beiwerk war, in den meisten Schulen längst vorbei.

Einen wichtigen Impuls für eine veränderte Wahrnehmung kultureller Bildung gab die Weiterentwicklung von Schulen zu Ganztagsschulen – ganz unabhängig davon, ob in offener oder geschlossener Form. Schulen mussten mehr sein als Orte für schulisches Lernen im Unterricht. Es galt, Formate zu entwickeln, die Schülerinnen und Schüler nicht nur kognitiv fordern, sondern die verschiedenen Sinne ansprechen. Kooperationen mit Musikschulen, Jugendkunstschulen und anderen Trägern wurden eingegangen, und mit Projekten wie „Kulturagenten für kreative Schulen“ oder „Kulturschule“ sollte und soll die kulturelle Schulentwicklung vorangetrieben werden. Angestrebt wird damit unter anderem eine Veränderung des Schulklimas – und damit mehr Freude am Lernen in allen Fächern.

Auch außerhalb der Schulen sollen Kinder und Jugendliche mit kultureller Bildung erreicht werden. Kaum ein Orchester, das nicht mit einem Education-Projekt aufwartet. Kaum ein Museum, das nicht kulturelle Bildung zu einem wichtigen -Arbeitsbereich erklärt. Kaum ein Theater, das nicht auch für Kinder oder zumindest für Jugendliche Angebote unterbreitet. Kaum eine Bibliothek, die nicht betont, dass sie mehr ist als eine Ausleihstelle für Medien, sondern längst ein dritter Ort, an dem auch die Literaturpädagogik als relativ neuer Zweig der kulturellen Bildung Einzug gehalten hat.

Kulturelle Bildung kann vielleicht einen Beitrag leisten, sie sollte jedoch nicht mit Erwartungen und Anforderungen überfrachtet werden.

Kulturelle Bildung heute soll vieles bewirken, sie soll Kinder und Jugendliche sprachfähig machen, sie soll Teilhabe ermöglichen, sie soll die Integration voranbringen, sie soll ein wichtiger Bestandteil der Inklusion sein, sie soll Kinder und Jugendliche einladen, sich zu beteiligen, sie soll das Aushalten von Differenz vermitteln, sie soll benachteiligten Schülerinnen und Schülern Selbstvertrauen geben, sie soll Extremismus -bekämpfen, sie soll, sie soll, sie soll.

Es wirkt mitunter so, als könne kulturelle Bildung zur Lösung aller gesellschaftlichen Fragen beitragen. Kulturelle Bildung ist jedoch kein Allheilmittel. Kulturelle Bildung kann vielleicht einen Beitrag leisten, sie sollte jedoch nicht mit Erwartungen und Anforderungen überfrachtet werden. Und vor allem dürfen die Akteure der kulturellen Bildung ihren Gegenstand, die Künste, nicht aus dem Blick verlieren. Kulturelle Bildung heißt Auseinandersetzung und Beschäftigung mit Kunst, heißt die Entwicklung und Schärfung des Sehens, des Sprechens und des Hörens, heißt sich mit der Widerständigkeit des künstlerischen Materials zu befassen.

Nur wenn die kulturelle Bildung ihren Gegenstand, die Künste, ernst nimmt und ihn in den Mittelpunkt des Geschehens rückt, kann sie auch jenseits der derzeit bestehenden Hochkonjunktur bestehen. Denn irgendwann werden zumindest in der kulturpolitischen Debatte andere Themen en vogue sein, und es ist dringend erforderlich, dass die kulturelle Bildung auch dann noch einen wichtigen Stellenwert sowohl in der schulischen als auch der außerschulischen Bildung hat. Denn die Künste bleiben immer relevant!