Zum Inhalt springen

Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)

„Die großen Unterschiede müssen angegangen werden“

Nicht nur in Schulen gibt es Herausforderungen wie Armut, Benachteiligung, Integration und Migration. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung legt nahe, dass Ähnliches für Kitas gilt. E&W sprach mit dem Co-Autor der Studie, Andy Schieler.

Andy Schieler ist promovierter Erziehungswissenschaftler und Entwicklungspsychologe. Er arbeitet am Institut für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit an der Hochschule Koblenz. (Foto: Thomas Frey)
  • E&W: „Kitas 2. Klasse?“ heißt eine Studie, die Sie für die FES erstellt haben. Das klingt besorgniserregend. Gibt es tatsächlich Kitas erster und zweiter Klasse?

Andy Schieler: Das Fragezeichen steht bewusst im Titel, unter anderem, weil sich unsere Studie allein auf Einschätzungen der Kita-Leitungen stützt. Wir haben eine Reihe Hinweise gefunden, dass benachteiligte Kinder in ihren Kitas weniger Chancen auf eine qualitativ hochwertige Bildung bekommen als der Nachwuchs aus besser gestellten Familien in ihren Einrichtungen.

  • E&W: Wie sind Sie für Ihre Studie vorgegangen?

Schieler: Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) befragt in seiner Untersuchung „Entwicklung von Rahmenbedingungen in der Kindertagesbetreuung“ (ERIK) regelmäßig Kita-Leitungen nach den Rahmenbedingungen ihrer Arbeit. Wir haben die Daten aus dem Jahr 2020 erst einmal dahingehend betrachtet, wie hoch Kita-Leitungen den Anteil sozioökonomisch benachteiligter Kinder bei sich schätzen.

  • E&W: Sind Sie auf große Unterschiede gestoßen?

Schieler: Durchaus. Jede sechste Kita-Leitung – 16,4 Prozent – gibt an, solche Kinder nicht in der Einrichtung zu haben. Auf der anderen Seite gehen 13 Prozent von mindestens 31 Prozent benachteiligter Kinder aus. Auch wenn das Schätzungen sind, ergibt sich ein klares Bild. Im nächsten Schritt haben wir zwei Gruppen gebildet: Gruppe A umfasste Kitas ohne, Gruppe B Kitas mit 31 Prozent und mehr sozioökonomisch benachteiligter Kinder. Dann stellten wir fest, dass sich die Herausforderungen in Gruppe B in vielerlei Hinsicht ballen. Die B-Kitas nehmen mehr geflüchtete Kinder auf, werden von mehr Kindern mit Migrationshintergrund besucht sowie von mehr Kindern mit Förderbedarf und Behinderungen.

  • E&W: Spiegelt das nicht vor allem die großen sozialen Unterschiede zwischen einzelnen Stadtteilen beziehungsweise Kommunen wider?

Schieler: Der Sozialraum spielt sicher eine große Rolle. Dennoch könnte man nicht nur die Platzvergabe vielfältiger steuern – etwa über die Jugendämter –, sondern auch die Ressourcenausstattung in den Einrichtungen stärker an den Bedarfen vor Ort ausrichten.

  • E&W: Bekommen Kitas in benachteiligten Regionen mehr Personal?

Schieler: Auf Basis der Daten von immerhin 4.000 Kita-Leitungen ist das offenbar eher die Ausnahme. Statistisch stehen die B-Kitas mit Blick auf die personelle Ausstattung in vielen Bereichen schlechter da.

  • E&W: Zum Beispiel?

Schieler: Mehr als jede vierte Leitung gibt an, Stellen wegen mangelnder Bewerbungen sechs Monate und länger nicht besetzen zu können. In Kitas, die überwiegend von Kindern aus bessergestellten Familien besucht werden, sagt das nicht einmal jede fünfte Leitung. Teilweise damit zusammenhängend konnten die B-Kitas im letzten halben Jahr vor der Befragung den Personalschlüssel an 28 Tagen nicht einhalten. Das ist in Arbeitswochentagen gerechnet mehr als ein Monat. In den A-Kitas waren es lediglich 13 Tage.

  • E&W: Fallen Beschäftigte in Kitas mit einem besonders hohen Anteil benachteiligter Kinder auch häufiger wegen Krankheit aus?

Schieler: Ja, in Kitas mit vielen benachteiligten Kindern geben die Leitungen signifikant häufiger an, Personalausfälle und Abwesenheiten von sechs Wochen und mehr ausgleichen zu müssen. Hier spricht vieles für einen Teufelskreis: Durch den Personalmangel steigen die Belastungen. Diese führen zu Ausfällen, zu noch mehr Belastungen und zu weiteren Ausfällen.

  • E&W: Haben Sie untersucht, wie die Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas ausgebildet sind?

Schieler: In den B-Kitas ist der Anteil des nicht pädagogisch ausgebildeten Personals etwas höher als in den A-Kitas. Uns hat überrascht, dass diese Einrichtungen hinsichtlich der Qualifikation des pädagogischen Personals nicht besser aufgestellt sind. Es spricht viel dafür, Erzieherinnen und Erzieher für die Arbeit mit benachteiligten Kindern besonders zu qualifizieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Arbeit mit Kindern wie deren Eltern ist herausfordernder, wenn diese andere Sprachen als Deutsch sprechen. Von einer aktuellen Umfrage des Deutschen Kitaleitungskongresses (DKLK), an der ich ebenfalls mitgearbeitet habe, wissen wir, wie weit die Zahl der Sprachen zwischen Kindern und Personal auseinanderklafft: Im Mittel werden in einer Kita von den Kindern sechs verschiedene Sprachen gesprochen, die Erzieherinnen und Erzieher sprechen drei. Auch das ist eine Herausforderung.

  • E&W: Sie haben gesagt, dass Kitas mit einem hohen Anteil benachteiligter Kinder mit Blick auf die personelle Besetzung in vielen Bereichen schlechter dastehen als Kitas mit einer besseren Sozialstruktur. Gibt es auch Ausstattungsmerkmale, bei denen diese Einrichtungen bessergestellt sind?

Schieler: Ja, der Bereich Personalbindung und -entwicklung spielt in diesen Kitas eine größere Rolle. Dazu gehören zum Beispiel Möglichkeiten der individuellen professionellen Weiterentwicklung, Supervision, Hospitation in anderen Einrichtungen und Angebote zur Gesundheitsförderung. Auch die Arbeitszeiten sind statistisch gesehen flexibler. Zum Teil spiegelt sich hier wider, dass sozioökonomisch benachteiligte Kinder häufiger größere Kitas besuchen, in denen manche Maßnahmen etablierter sind. Das Gleiche gilt für große Träger.

  • E&W: Was sollte aus Ihren Erkenntnissen folgen?

Schieler: Zunächst einmal sollten sie thematisiert werden. Denn Kitas sind nicht erst seit dem Kita-Qualitätsgesetz, sondern bereits seit Jahrzehnten gehalten, „Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen“ – so hält es das Sozialgesetzbuch (SGB) VIII in seiner Fassung von 1990 für die Kinder- und Jugendhilfe fest. Um herauszufinden, wo es gelingt, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, und wo nicht, braucht es zudem weitere Forschung.

  • E&W: Haben Sie auch Vorschläge für einen besseren Ausgleich von Benachteiligungen?

Schieler: Unter anderem empfehlen wir einen Kita-Index, der die Zusammensetzung aller Einrichtungen erfasst. Dieser wäre eine gute Basis, um dort, wo es mehr Herausforderungen gibt, mehr Ressourcen zuzuteilen. Noch besser wäre es allerdings, die großen Unterschiede anzugehen, indem die Ballung vieler benachteiligter Kinder in wenigen Einrichtungen von vornherein vermieden wird. Dazu müsste man sich die Sozialräume anschauen, die Stadtplanung und den Wohnungsbau verändern. Das ist natürlich ein komplexes Unterfangen – doch einer chancengerechteren Bildung wäre damit gedient.