Arm und reich in Deutschland
„Die Gemeinde hat kein Geld“
Der Landkreis Görlitz an der polnischen Grenze ist Braunkohleregion und Wolfsrevier. Das Einkommen der Menschen gehört statistisch zu den niedrigsten in Deutschland. An vielen Schulen und Kitas ist das Manko zu spüren.
Das JugendShowOrchester Görlitz spielt und singt eine Hymne auf die Heimat, ein 16-Jähriger mixt ein Elektropop-Loblied auf die Region, und „Dr. Taste“ komponiert rockig die Zeilen: „Besucht uns gern, sonst habt ihr was verpasst!“ Sie alle haben sich beteiligt an einem Songcontest für ihre Heimat Görlitz, den östlichsten Landkreis Deutschlands: knapp mehr als 250.000 Einwohnerinnen und Einwohner zwischen Braunkohle und Wolfsrevier, landschaftlich lieblich und weitläufig, aber für Zuwandererinnen und Zuwanderer weniger attraktiv. Daher hat sich der Landkreis eine selbstironische Imagekampagne ausgedacht, die neue Fachkräfte und Abgewanderte aus der ganzen Republik anlocken soll. Sie nennen sich das „UnbezahlbarLand“, sie wollen „unbezahlbare Chancen“ gegenüber der Großstadt aufzeigen: Freiräume, Arbeitswelten, Lebensqualität, Kreativität.
Das Hohe Lied ist nötig. Ökonomisch gehört der Landkreis mit seinen fast 200 Kilometern Außengrenzen zu Polen und Tschechien zu den schwächsten der Bundesrepublik. Die Bruttolöhne zwischen Weißwasser und Zittau sind laut Statistischem Landesamt mit 28.745 Euro beinahe Schlusslicht in Sachsen. Auch im bundesweiten Steuerkraft-Ranking belegt Görlitz einen der letzten Plätze. Das Steueraufkommen ist nur etwa ein Viertel so hoch wie im reichen Main-Taunus-Kreis, der zu den Top 5 gehört. Ein Manko, das Folgen hat für die Bildungslandschaft.
„Für eine richtige Grundausstattung müsste ein Fonds in fünfstelliger Höhe bereitstehen.“ (Bernd Kaiser)
Einer, der sich bestens auskennt in der Gegend, ist Bernd Kaiser, 61, Kreisvorsitzender der GEW, Bezirkspersonalrat sowie Physik- und Informatiklehrer. „An unserer Schule läuft es glücklicherweise ganz gut“, sagt Kaiser. Das Gymnasium ist beliebt, es kann gar nicht alle Schülerinnen und Schüler aufnehmen, die sich anmelden. „Wir hatten Glück, wir haben eine hohe Erbschaft einer früheren Schülerin erhalten, die wohlhabend im Westen Deutschlands verstorben ist. Damit konnten wir den Eigenanteil der Fördermittel aufbringen und die Schule für fünf Millionen Euro sanieren.“ Doch bei näherem Hinsehen fallen ihm manche Schwachpunkte ein. Für „Surf-Ecken“ mit WLAN habe es nicht gereicht, auch weil der Platz im Schulgebäude fehlt. Im Fach Physik, erzählt er, benutzten sie noch immer die Schul-Experimentierkästen aus DDR-Zeiten. Die interaktiven Tafeln, die die Schule nach und nach angeschafft hat, stammen aus verschiedenen Zeiten und Generationen, nichts läuft einheitlich. „Für eine richtige Grundausstattung müsste ein Fonds in fünfstelliger Höhe bereitstehen“, sagt Kaiser.
Regelmäßig Haushaltssperren
Doch das sind Luxussorgen. An vielen Schulen fehlt es an ordentlichen Internetleitungen und Geräten für Lehrkräfte und Klassen. Homeschooling ist von diesen Schulen aus gar nicht möglich. Mancher Schulstandort wartet bis heute auf eine gründliche Sanierung. Die Oberschule in Krauschwitz an der deutsch-polnischen Grenze etwa. Deren ehemaliger Schulleiter Michael Christoph bedauerte bei seinem Abschied in diesem Sommer, dass er es in 24 Jahren nicht vermocht habe, dass die gesamte Schule saniert ist. Aus einer Grundschule in Grenznähe schreibt eine Lehrkraft: „Wir haben nicht mal die Möglichkeit, die Sonne abzuhalten, die die Räume auf 40 Grad erwärmt. Ein Beamer scheitert an der zu schwachen Sicherung. Die Gemeinde hat einfach kein Geld.“ Aus dem Förderschulzentrum in Görlitz berichten Lehrer, dass die Container auf dem Schulhof noch zu den besten Klassenzimmern gehören.
„Die finanzielle Decke ist einfach zu kurz“, sagt Kaiser. Fördertöpfe für Neubau und Sanierung sind spärlich und umkämpft, der Landkreis und die Stadt Görlitz verhängen regelmäßig Haushaltssperren. Andere starke Partner oder Unternehmen, die Schul-Fördervereinen nennenswerte Summen spenden, sind selten. Die größten Arbeitgeber der Region gehören zur öffentlichen Hand, darunter der Landkreis, das Rathaus, das Klinikum und die Stadtwerke. Waggonbauer Bombardier und der Siemens-Standort kämpfen oft mit Umstrukturierungen ihrer Konzerne und gegen Schließungen oder Stellenabbau. „Eine kräftige Firmenunterstützung sieht anders aus“, sagt Kaiser.
Wenig Schulstandorte
Ohnehin sind Schulstandorte im Landkreis rar gesät. Wenn Schülerinnen und Schüler sitzen bleiben oder strafversetzt werden, gebe es kaum Möglichkeiten, sie an andere Schulen zu schicken, berichtet der Gymnasiallehrer. In ländlichen Regionen seien oft die freien Träger die Retter der Standorte, da der Freistaat angesichts des Schülermangels viele Schulen geschlossen hat. Für die Comenius-Schule in Mücka wird gerade diskutiert, ob man einigen Kindern jeden Morgen und jeden Nachmittag 100 Minuten Schulweg mit Bus und Zug zumuten kann – zu einem Unterrichtsbeginn um 7:15 Uhr!
Massiver Personalmangel
Jens Eisoldt kennt das Standorte-Dilemma. Er unterrichtet Mathe und Physik an der Oberschule in Görlitz-Rauschwalde, ein sanierter Plattenbau, der 1977 entstand. Seit mehreren Jahren stehen dort Container im Schulhof. Sie waren angesichts wieder steigender Schülerzahlen als Provisorium beschafft worden, doch bis heute werden sie für kleine Gruppen etwa in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) genutzt. Ein Neubau ist bisher nicht entstanden und nicht absehbar. Die Stadt hat kein Geld für den Eigenanteil.
Während der Corona-Pandemie habe er überdies die finanziellen Engpässe vieler Menschen deutlicher als sonst zu spüren bekommen, erzählt der Klassenlehrer: Homeschooling sei besonders in der Anfangszeit der Pandemie nur bedingt möglich gewesen, weil die Versorgung mancher Familien mit Geräten oder Internetanschlüssen mangelhaft ist. „Nicht jeder hat einen Laptop oder eine Flatrate zu Hause“, sagt Eisoldt. Als er zu Schuljahresbeginn eine kleine Klassenfahrt anbot, die die Eltern 65 Euro und mit Bildungsticket nur 55 Euro kosten sollte, hätten fünf Familien einen Zuschuss beantragen müssen. „Es ist erschreckend“, sagt Eisoldt, „mit wie wenig Geld manche Familien über die Runden kommen müssen.“
Über all dem schwebt noch eine größere Misere: der Personalmangel. „Viele junge Leute wollen nach dem Studium nicht in den Osten Sachsens“, sagt Kaiser. An Förder- und Oberschulen sei der Bedarf an Lehrkräften mitunter um ein Vielfaches höher als die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber. Der Freistaat zahlt daher Gewinnungszulagen für Mangelfächer und den ländlichen Raum. Er stellt jedes Jahr neue Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger ein. Ihre Zahl nehme in Ostsachsen sogar noch zu. Der 59-jährige Eisoldt etwa ist an seiner Schule der letzte grundständig ausgebildete Physiklehrer. Parallel werden Kollegen gebeten, über den Ruhestand hinaus zu bleiben oder ihre Teilzeit aufzustocken. „Die jährlichen Personalzahlen sind Frustzahlen“, sagt Kaiser.
Schwache Hoffnungszeichen
Der Oberbürgermeister von Weißwasser, Torsten Pötzsch (Wählervereinigung Klartext), weiß um die Probleme der Bildungslandschaft. Das 16.000-Einwohner-Städtchen, einst Hochburg der Glasindustrie, hat heute acht staatliche Schulen und eine Freie Schule. Als Weißwasser kürzlich eine Architektin zur Leiterin des Bauamtes ernannte, habe sie den Oberbürgermeister auch auf die Schwächen an Kitas und Schulen hingewiesen. Dringend sollte in technische Ausstattung und energetische -Sanierung investiert werden, in Dämmungen, Leitungen und Klimatisierung, um Ausgaben zu sparen.
Pötzsch setzt auf die nächsten Jahre. Weißwasser liegt mitten im Lausitzer Kohlerevier und soll vom Strukturwandel profitieren. Die alte Glasfachschule, die seit Jahren geschlossen ist, soll ein moderner Bildungs- und Forschungsstandort werden. Die Universität der Vereinten Nationen, UNU-FLORES, in Dresden angesiedelt, plant nach Angaben des Oberbürgermeisters, in Weißwasser einen Standort aufzubauen. Nahe dem Bahnhof, an dem bald Schnellzüge der elektrifizierten Trasse Görlitz–Berlin halten sollen, soll ein Mustercampus mit energieautarken Wohngebäuden und einer Außenstelle des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle entstehen. Ein neuer Glasproduzent – neben dem Traditionshaus Stölzle – hat ebenfalls seine Fühler nach Weißwasser ausgestreckt. Es sind Hoffnungszeichen. In Zukunft, so Pötzsch, sollten davon auch die Schulen und Kitas der Stadt profitieren.