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Pädagogik und Digitalisierung

„Die Einschwingphase ist durch“

Das Corona-Virus hat Bildungseinrichtungen zum Fernunterricht gezwungen. Nach den ersten Monaten zeigt sich, was an Schulen, Berufsschulen und Hochschulen digital schon geht – und was nicht.

In den vergangenen Wochen und Monaten musste die Klasse 8b des Friedrich-Gymnasiums in Freiburg im Breisgau auf digitalen Fernunterricht umstellen. (Screenshot: Patrick Bronner)

„Hast du schon mal versucht, eine Gleichung mit Quadraten zu lösen?“, rappt der Mathe- und Physiklehrer Patrick Bronner in einem eineinhalb Minuten langen Clip. Für die tägliche Videokonferenz mit seiner Klasse 8b hat er die Mitternachtsformel als Coversong vertont. Im digitalen Fernunterricht gelten neue Regeln, das hat er in den vergangenen Wochen gelernt. „Man braucht Elemente, die motivieren“, sagt der Pädagoge des Friedrich-Gymnasiums (FG) in Freiburg im Breisgau.

In seinem Unterricht kombiniert der 41-Jährige schon lange analoge und digitale Methoden. Als die Schulen wegen der Corona-Pandemie Mitte März schlossen, war er schnell startklar. Dennoch lernte auch er seitdem dazu – über neue Aufgabenformate, eine veränderte Lehrerrolle und die Sozialisierungsfunktion von Schule.

„Die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern steht jetzt im Vordergrund, nicht die Vorbereitung auf die nächste Klassenarbeit“, sagt er. „Jemandem zum Geburtstag ein Lied zu singen, ist plötzlich wichtiger als die 13. Übungsaufgabe zur binomischen Formel.“ Zwar lasse sich das soziale Miteinander im Klassenzimmer nicht durch Videokonferenzen und Audiochats ersetzen. Trotzdem seien seine Klasse und er gefühlt näher zusammengerückt. „Man öffnet sich. Die Klasse sieht mich jetzt zum Beispiel zu Hause in meinem Arbeitszimmer.“

„Die Corona-Krise kann Ausgangspunkt für eine nachhaltige Schulentwicklung sein.“ (Patrick Bronner)

Bronner wechselt im Fernunterricht zwischen synchronem und asynchronem Lernen: Erst präsentiert zum Beispiel ein Schüler live in der Videokonferenz seine Hausaufgaben, später erarbeiten alle offline selbst neue Inhalte. Eigenständiges Lernen werde aktiviert und verliere den Projektcharakter, sagt der Pädagoge.

„Die Corona-Krise kann Ausgangspunkt für eine nachhaltige Schulentwicklung sein“, betont er. Beibehalten will er kreative und forschende Aufgabenstellungen statt des Durchackerns von Arbeitsblättern – wie die „Klopapier-Challenge“, bei der eine „Quarantänemaschine“ gebaut wurde. Um das Abitur zu schaffen, sei das Lernen für Klausuren zwar wichtig. „Aber wir müssen auch aufs Leben vorbereiten.“

GEW-Schulexpertin Ilka Hoffmann hofft ebenso, dass die jüngsten Erfahrungen dazu führen, „das gleichschrittige Lernen mehr in Frage zu stellen und neue Unterrichtsformen, die der Heterogenität der Lernenden Rechnung tragen, zu etablieren“.

Debatte um Zoom

Im Kollegium beobachtet Bronner eine veränderte Haltung zur Digitalisierung: „Da sind jetzt alle offen für neue Wege.“ Die technischen Möglichkeiten des FG sind derweil nicht repräsentativ. Das Gymnasium ist Tablet-Modellschule des Kultusministeriums Baden-Württemberg und verfügt über Schulmail, Schulcloud und Schulchat mit Text, Audio und Video, Glasfaserkabel sowie aus Datenschutzgründen einen eigenen Server und Verträge mit Lernplattformen.

Hitzige Debatten gab es um die US-Videochat-App Zoom, konkret ging es um datenschutzrechtliche Bedenken und Proteste einiger Eltern. Daraufhin schloss die Schule einen DSGVO-konformen Vertrag* über die Deutsche Telekom zur Nutzung von Cisco WebEx ab. Weil die Bildschirmübertragung häufig abbrach und es keine Möglichkeiten mehr für Partner- und Gruppenarbeiten gab, boykottierte die 8b den Fernunterricht. Bis das Land eine offizielle Plattform anbiete, nutze er nun wieder Zoom, sagt Bronner. Das Einschalten von Kamera und Mikro sei freiwillig.

Die GEW mahnt indes zur Vorsicht: „Ein legerer Umgang mit dem Datenschutz darf kein Dauerzustand werden“, sagt Hoffmann. „Die Entwicklung funktionierender und datensicherer Apps, Tools und Plattformen ist überfällig.“

Konzepte gefordert

Während neue Medien oft mit Naturwissenschaften assoziiert werden, machte am FG auch Musiklehrer Steffen Jahnke die Erfahrung: „Ich kann meinen Unterricht zu 90 Prozent digital organisieren.“ Der 55-Jährige, der kein Smartphone hat, aber seit Einführung der Lehrer-Tablets digital fit ist, nimmt beispielsweise Lernvideos für zu übende Stabspiel-Melodien auf und stellt diese auf seinen YouTube-Kanal.

Allerdings weiß er nicht, was damit bei den Schülerinnen und Schülern zu Hause weiter passiert: Haben sie ein Instrument, einen Drucker, können sie die Dateien herunterladen, MP3s abspielen und YouTube-Videos schauen? „Das ist eine große Grauzone. Ich gebe mir wahnsinnig Mühe, es macht auch Spaß – aber es fehlt eine verbindliche Antwort auf die Frage: Was kann ich verlangen?“

Jahnke schätzt seine Rücklaufquote auf 70 Prozent. Damit sei er vor dem Hintergrund, dass „sich jeder gerade irgendwie durchwurschtelt“, ganz zufrieden. „Aber es können einem nicht dauerhaft 30 Prozent durchrutschen.“ Da Fernunterricht die Schulen noch länger begleiten werde, wünscht er sich klare Ansagen aus dem Kultusministerium. „Die Einschwingphase ist durch, jetzt müssen Konzepte entwickelt werden.“

Konzentration leidet

Hoffmann plädiert dafür, Schulen mehr individuellen Spielraum zu geben. An Stoffplänen festzuhalten, funktioniere angesichts unterschiedlicher Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler zu Hause nicht. „Viele Kinder und Jugendliche erwerben nun jedoch Kompetenzen wie selbstständige Lernorganisation und den Umgang mit digitalen Tools, was auch über die Corona-Zeit hinaus nützlich ist.“

Aus der Schülerperspektive klappt der digitale Unterricht „teils teils – kommt immer auf den Lehrer und das Fach an“, wie Fabian Metzger aus der Kursstufe 1 sagt. Sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schüler müssten sich zudem noch daran gewöhnen, vor einer Webcam zu sitzen. „Viele sind schüchterner als sonst und melden sich weniger.“

Mit dem eigenständigen Arbeiten kommt der 16-Jährige, der in seiner Freizeit gerade die App „Kursplaner – Abitur BW“ programmierte, gut klar. „Die Motivation, selbst an Sachen zu arbeiten, ist bei mir immer da.“ Allerdings stellt auch er fest, dass die Konzentration zu Hause schlechter sei: „Das eigene Zimmer und der eigene Schreibtisch lenken doch sehr ab – oder auch das Handy.“ Außerdem habe er sich mit der Zeit eher „in Richtung Ferien“ entwickelt. „Wenn keine Videokonferenz war, bin ich nicht um sieben, sondern um zehn Uhr aufgestanden.“

Schülerinnen und Schüler programmieren im Fach Automatisierungstechnik an cyberphysischen Systemen. (Foto: BSAOE)

Reine Onlinebeschulung nicht möglich

Ortswechsel: An den beruflichen Schulen Altötting unterrichtet Robert Bark angehende Elektroniker für Automatisierungs-, Betriebs-, Energie- und Gebäudetechnik sowie Mechatroniker. Der Stoff reicht von einer einfachen Tasterschatung, die entworfen, aufgebaut und getestet werden muss, bis zu komplexen Problemstellungen an cyberphysischen Systemen. Die Ausbildung läuft realitätsnah an industriellen Anlagen.

Was im Präsenzunterricht ein Riesenvorteil ist, wird im digitalen Fernunterricht kompliziert: „Was wir vor Ort in den Klassen machen, ist in einer reinen Onlinebeschulung nicht möglich“, sagt Bark. „Vieles ist schon an der Anlage für die Schüler nicht einfach nachzuvollziehen.“ In eine digitale Form übersetzen ließen sich fast nur Grundlagen für Ausbildungsanfänger, schon ab dem zweiten Jahr seien die Szenarien aufwändiger. „Die Hard- und Software dazu haben Schüler privat gar nicht.“ Viele besäßen noch nicht mal einen Laptop, sondern machten alles per Smartphone.

„Man verliert Schüler – und bekommt nur schwer ein Gefühl dafür, wie viele und wen genau. Im Unterricht erkennt man sonst schon am Gesichtsausdruck, ob eine Information angekommen ist oder nicht.“ (Robert Bark)

Also muss Bark, der auch wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Technikdidaktik der Technischen Universität (TU) München ist, improvisieren: Arbeitsblätter gestalten, Versuche abfilmen und für Fragen regelmäßig im Videochat zur Verfügung stehen. Die jungen Menschen an Berufsschulen sind etwa mit Blick auf Vorbildung und Herkunft oft sehr heterogen. „Einser-Abiturienten sitzen neben Schülern, die die Mittelschule nicht geschafft haben. Dieser Spagat ist für Lehrkräfte schon im Präsenzunterricht riesig und im digitalisierten Unterricht bisher kaum zu schaffen.“

Barks Einschätzung: „Man verliert Schüler – und bekommt nur schwer ein Gefühl dafür, wie viele und wen genau. Im Unterricht erkennt man sonst schon am Gesichtsausdruck, ob eine Information angekommen ist oder nicht.“ Nachfragen per Mail oder Chat gebe es weniger als im Unterricht. Dort kann sich Bark in Freiarbeitsphasen auch individueller mit Schülern befassen, das fällt nun weg. Ebenso die Tutor-ähnliche Rolle guter Schülerinnen und Schüler, die schwächeren etwas erklärten. „Wir haben hier zur guten digitalen Schule noch einen langen Weg vor uns.“

„Die Lehrkräfte kennen die Probleme und können gute Konzepte für eine sinnvolle Kombination aus Präsenz- und Fernunterricht erstellen. Dazu brauchen sie jedoch Zeit im Sinne von Arbeitszeit.“ (Ansgar Klinger)

Der GEW-Experte für Berufliche Bildung, Ansgar Klinger, betont: „Die Corona-Krise wird die Unterschiede zwischen leistungsstarken und -schwächeren Schülerinnen und Schülern vertiefen.“ Für letztere sei eine besondere Förderung erforderlich, ebenso für geflüchtete Auszubildende, deren Sprachkenntnisse für den Digitalunterricht noch nicht ausreichten. Ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) etwa müssten verstärkt angeboten werden.

„Die Lehrkräfte kennen die Probleme und können gute Konzepte für eine sinnvolle Kombination aus Präsenz- und Fernunterricht erstellen. Dazu brauchen sie jedoch Zeit im Sinne von Arbeitszeit“, sagt Klinger. Insgesamt bilanziert er: „Die Qualität der Ausbildung ist stark beeinträchtigt.“ Auch weil fast 750.000 Betriebe Kurzarbeit angemeldet hätten – „und Kurzarbeit und duale Ausbildung ein Widerspruch sind“.

Vorlesung als Videoreihe

Weiterer Ortswechsel: Woche acht im Homeoffice von Johannes Teichert in Berlin-Friedenau. Der Juniorprofessor
im Fachbereich Chemie an der TU Berlin hat im Sommersemester 2020 durchgehend Spätschicht. Er teilt sich das häusliche Arbeitszimmer mit seiner Frau. Diese nutzt den Schreibtisch von sechs bis 13 Uhr, um 14 Uhr übernimmt Teichert.

Aktuell gibt er die Vorlesung „Organische Chemie I“, eine Einführungsveranstaltung für rund 150 Studierende im zweiten Semester. Statt aus Präsenzveranstaltungen besteht diese nun aus Videos und einem digitalen Skript. „Erst wollte ich das live machen, damit Nachfragen gestellt werden können“, sagt der 39-Jährige. Dann stellte er jedoch fest, dass Videokonferenzen in dieser Größe technisch ein Problem sind. Und nicht alle Studierenden immer überall schnelles Internet haben.

Nun also erklärt Teichert Themen wie „Nucleophile Substitution“ in vorproduzierten Videos, die seine Studierenden jederzeit online abrufen können. In der Regel sind seine per Zoom aufgezeichneten Beiträge 30 Minuten lang – ungefähr, denn: „Ich habe jetzt etwas mehr Freiheit in der Lehre.“

Bisher bedeutet digital aber auch: mehr Arbeit. Auf die Videos bereitet sich Teichert intensiver vor als auf eine klassische Vorlesung. Andererseits ist er zeitlich flexibler für Forschungsaufgaben, denn seine Videos nimmt er auf, wann es gerade passt. Wie weit seine Studierenden sind, kann er jetzt deutlich an den Nutzerzahlen von „Teicherts Quickies“ ablesen – das sind kurze Quizze auf der TU-Lernplattform ISIS, mit denen die Studierenden ihren Wissensstand überprüfen können.

Viel Eigeninitiative

Bei der Gestaltung der eigenen Onlinelehre sei sehr viel Eigeninitiative gefragt, sagt der 39-Jährige, der dazu viele Formate von US-Universitäten sichtete. „Ich nutze dies aber auch als Chance für mich, um mich da sauber einzuarbeiten.“ Bisher gibt es keinen Ersatz für die komplett wegfallenden Laborversuche. „Das ist ein Problem, denn ein großer Teil unserer Ausbildung ist das Handwerk.“

Künftig will Teichert mehr mit dem Konzept des Inverted Classrooms arbeiten: „Wenn ich die Vorlesung jetzt digital habe, warum sollte ich sie nochmal komplett an der Tafel halten?“ Die Videos ersetzten dann die Veranstaltung, Übungen erfolgten weiter im Tutorium. Studierende, die nebenbei jobbten, könnten so zeitlich flexibler lernen. Auch seine Onlinesprechstunde mit meist 60 Studierenden will er beibehalten, „weil dann nicht nur eine Person Fragen beantwortet bekommt“.

„Die Formate sind störanfällig.“ (Ann-Kathrin Hoffmann)

Bei Ann-Kathrin Hoffmann, die an der Europa-Universität Flensburg im vierten Semester Geschichte und Wirtschaft/Politik auf Lehramt studiert, finden zwei Drittel ihrer Veranstaltungen synchron statt – per Cisco WebEx. Technisch läuft das oft nicht rund: „Die Formate sind störanfällig“, sagt die 25-Jährige. Sie habe zu Hause kein schnelles und stabiles Internet, „da bekommt man dann einfach nicht alles mit“. Jüngst fiel der Mailserver der Hochschule wegen Überlastung für neun Stunden aus. Das macht die Kommunikation untereinander schwieriger.

Probleme zeigen sich auch im Zusammenhang mit den asynchronen Veranstaltungen, bei denen es meist um Textarbeit mit schriftlichen Aufgaben und festen Abgabeterminen geht. Zum Beispiel sind Recherchen schwierig: „Unsere Bibliothek hat zu wenige Onlinezugänge.“ Viele ihrer Mitstudierenden stöhnten über einen „wahnsinnigen Mehraufwand“. Trotz der Widrigkeiten sagt Hoffmann, die zudem Gasthörerin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ist, aber auch: „Ich kann jetzt stärker in meinem eigenen Tempo arbeiten und bin flexibler.“

Kennzeichnend in diesem Semester ist für die im Studierendenausschuss der GEW Schleswig-Holstein aktive Hoffmann: „Jeder macht, wie er kann und will.“ Vielleicht führt auch dies zu ihrer weiteren Beobachtung: „Manche Studierende sind im Laufe des Semesters verschwunden.“

„Wichtig ist, dass nicht jede Hochschule im eigenen Saft schmort oder die Ellbogen ausfährt und sämtliches Wissen für sich behält.“ (Andreas Keller)

Der GEW-Hochschulexperte Andreas Keller bemängelt zu wenig konkrete Unterstützung und Fortbildungsangebote für die Lehrenden, die sich meist autodidaktisch „im Crashkurs“ hätten vorbereiten müssen. Er fordert zudem, dass künftig die Möglichkeiten der Digitalisierung stärker genutzt werden, indem interaktive Formate angeboten und nicht einfach nur Vorlesungen abgefilmt werden.

Solche Entwicklungen voranzutreiben, müsse auch Ziel des Nachfolgeprogramms „Innovation der Hochschullehre“ des 2020 auslaufenden Qualitätspakts Lehre sein, so Keller weiter. Die Erfahrungen über die eigene Hochschule hinaus zu teilen, müsse organisiert und eine Plattform zum Austausch geschaffen werden. „Wichtig ist, dass nicht jede Hochschule im eigenen Saft schmort oder die Ellbogen ausfährt und sämtliches Wissen für sich behält.“ Da das neue Programm kleiner als der Vorgänger sei, drohe vielen Projekten und Beschäftigten derweil das Aus. „Wir brauchen aber nachhaltige Strukturen.“