Coronapandemie
Die Einsamkeit durchbrechen
Die Corona-Pandemie trifft ältere Menschen besonders hart. Ob zu Hause oder im Pflegeheim: Viele leiden sehr darunter, dass soziale Kontakte wegbrechen. Aber das Recht auf Teilhabe muss auch unter Corona-Bedingungen gelten.
Eigentlich wollte sie zu ihrem 90. Geburtstag auch die jungen Leute aus den WGs im Haus in Berlin-Reinickendorf einladen, die immer so nett im Treppenhaus grüßen. „Aber wegen Corona ging das alles nicht“, sagt Lore Kujawa. Statt Besuchen erhielt sie etwa 60 Postkarten und Briefe mit Glückwünschen, die sie jetzt alle handschriftlich beantworten will. „Damit bin ich eine Weile beschäftigt.“ Die pensionierte Lehrerin und Gewerkschafterin, von 1974 bis 1977 Vorsitzende der GEW Berlin, pflegt aktiv soziale Kontakte. Regelmäßig kauft sie für ihre Nachbarin ein, besucht politische Veranstaltungen, Gedenkstätten und Konzerte. In Zeiten der Corona-Pandemie ist so gut wie alles abgesagt. „Dafür lese ich jetzt mehr“, sagt Kujawa, „und verbringe viel Zeit zu Hause mit meiner Katze.“
Die Gewerkschafterin plagt aktuell vor allem eine Sorge: „Dass die Demokratie kaputt geht.“ Die Regierung treffe sämtliche Entscheidungen alleine, das sei fatal. „Corona-Kabinett, wenn ich das Wort schon höre“, schimpft die 90-Jährige. „Wozu haben wir ein Parlament?“ Die konkreten Maßnahmen zum Infektionsschutz selbst steckt sie relativ locker weg.
„Natürlich müssen wir Ältere schützen, aber wir dürfen nicht unterschätzen, wie stark sich Vereinsamung oder die Angst vor Ansteckung auswirken können.“ (Verena Bentele)
Damit ist Kujawa eine Ausnahme. Vielen älteren Menschen macht stark zu schaffen, dass die sozialen Kontakte wegbrechen – und zwar unabhängig davon, ob sie in ihrer Wohnung leben oder im Pflegeheim. „Natürlich müssen wir Ältere schützen“, sagt die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, „aber wir dürfen nicht unterschätzen, wie stark sich Vereinsamung oder die Angst vor Ansteckung auswirken können.“
Fehlende Kommunikation
Viele ältere Menschen seien einsam, beobachtet Monika Rebitzki von der Senior*innengruppe „Junge Alte“ der Berliner GEW. „Sie treffen die Einschränkungen am härtesten.“ Die Seniorinnen und Senioren der GEW hätten vor Corona ein „irre aktives Leben“ gehabt. Ob Kino, Stadtteilführung, Ausstellungsbesuch, Instrumentalgruppe, Stammtisch, Singkreis, Chor oder Theaterprobe – aktuell findet davon nichts mehr statt. Im Sommer haben sich die Gruppen noch draußen an der frischen Luft getroffen, aber damit ist es jetzt auch vorbei. „Für viele ist die fehlende Kommunikation gerade das größte Problem“, sagt Rebitzki. „Wir bemühen uns, in Kontakt zu bleiben. Doch viele fallen raus.“
Sie selbst nutzt auch Videokonferenzen, aber viele ältere Menschen scheuten davor zurück. Teilweise besäßen sie gar keine Computer mit Kamera und Mikrofon. Oft seien die Geräte auch zu schwierig zu bedienen, gerade für Menschen, die nicht mehr gut sehen können oder andere Einschränkungen haben. „Dafür braucht es Lösungen“, so Rebitzki. Auch Kujawa kann ohne Hilfe keinen Laptop mehr bedienen, ihre Finger wollen nicht mehr so recht: „Das sind Vorschläge von jungen Leuten, die keine Ahnung haben, wie es sich anfühlt, alt zu sein.“
Viele Ältere suchen daher wo immer möglich nach Gelegenheiten zur Begegnung. So tauchten bei der Mahnwache für die Opfer der Reichspogromnacht am 9. November viel mehr Menschen auf als erwartet. Rebitzki: „Das war wie ein Familientreffen. Die hohe Teilnahme an solchen Veranstaltungen zeigt, wie groß das Bedürfnis nach sozialen Kontakten ist.“
Kommunen in der Pflicht
Was also muss geschehen, um es Älteren auch in der Pandemie leichter zu machen, dieses Bedürfnis zu erfüllen? Franz Müntefering, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), sieht die Kommunen in der Pflicht. In Berlin zum Beispiel lebt die Hälfte der Menschen in Einpersonenhaushalten, unter ihnen zahlreiche alte. Wenn bei älteren Paaren ein Partner stirbt, bringt der andere oft physisch und psychisch nicht mehr die Kraft auf, sich um soziale Kontakte zu bemühen. „Die traurige Wahrheit ist, dass Menschen alleine sterben“, sagt der frühere SPD-Bundesvorsitzende und Bundesarbeitsminister, „auch außerhalb von Corona.“ Deshalb gelte es dringend etwas zu tun, um diese Einsamkeit zu durchbrechen. So könnten sich beispielsweise Sozialarbeiterinnen und -arbeiter regelmäßig bei älteren Menschen melden und sie besuchen.
Besonders hart trifft die Pandemie Menschen in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Bewohnerinnen und Bewohner in Heimen dürften teilweise über Wochen und Monate hinweg keinen Besuch bekommen, erzählt Björn Rudakowski. Er ist Pfleger in einer kirchlichen Einrichtung in Mönchengladbach. „Das macht die Leute fertig.“ Die meisten Bewohnenden, so Rudakowski, könnten die „Panik“ nicht immer nachvollziehen. Sie haben den Krieg erlebt, fühlen sich für Krisen gewappnet. „Die Masken ziehen viele eher aus Höflichkeit uns gegenüber auf, weniger aus Angst vor Ansteckung.“ Doch sie leiden extrem darunter, ihre Kinder und Enkel nicht zu sehen. Zudem fallen sämtliche Gruppenangebote in den Einrichtungen wie Therapie, Singen, Kegeln oder Gymnastik weg. In Gesprächen merkt Rudakowski immer wieder, wie bedrückt die Menschen sind. Gerade in so einer Situation brauchten sie viel Zuspruch.
Pflegeberuf attraktiver machen
Die Leitungen bemühen sich, Besuche zu organisieren. Doch es hapert an großen Räumen, damit sich Angehörige mit Abstand treffen können. Mit einzelnen Bewohnern haben die Pflegekräfte per Videokonferenz Kontakt zur Familie aufgenommen. „Das ersetzt keinen Besuch“, sagt Rudakowski. „Doch die Leute, die darauf zurückgreifen können, finden es ganz toll.“ Allerdings ist so etwas nur mit Einzelbetreuung möglich. Woher soll das Personal die Zeit dafür nehmen? Pflegekräfte arbeiten in einigen Einrichtungen zwölf Tage am Stück, teilweise trotz positivem Corona-Test, so der Pfleger. Weil die Personalnot so groß ist, werden sie Medienberichten zufolge in einigen Heimen zur Pflege infizierter Bewohner eingesetzt. „Uns fällt jetzt auf die Füße, dass seit Jahren in diesem Bereich gekürzt wird.“
Der BAGSO-Vorsitzende Müntefering fordert, dass sich in Pflegeheimen deshalb grundlegend etwas ändern muss. „Wir müssen uns fragen: Welche Mindeststandards braucht es, um die Menschen zu schützen?“ Das gelte für Gebäude wie Personal. Wenn etwa Bewohnerinnen und Bewohner in kleinen Gruppen in einer Wohnung zusammenleben, kann man im Krisenfall damit ganz anders umgehen, als wenn 100 Menschen gemeinsam in einem großen Essenssaal sitzen und sich auf engen Fluren begegnen. Zudem müsse der Pflegeberuf attraktiver werden, so Müntefering. Altenpflege werde oft zu schlecht bezahlt. Deshalb brauche es dringend einen flächendeckenden Tarifvertrag. Nur so lasse sich die steigende Zahl an Pflegebedürftigen gut versorgen. „Die Probleme waren vorher schon latent da“, sagt der BAGSO-Vorsitzende. Corona aber habe die Situation noch einmal verschärft.
Keine Frage: Für die Älteren ist das Leben in der Corona-Pandemie eine besondere Herausforderung. Sie müssen auf vieles verzichten, das ihren Alltag lebenswert und anregend gemacht hat. Da sind zum einen Kultur und Aktivitäten wie Sport oder Vereinsarbeit. Da ist zum anderen der Austausch mit anderen Menschen insgesamt. Corona macht deutlich, wie verletzlich Ältere in unserer Gesellschaft sind und zwar nicht nur gesundheitlich, sondern auch sozial. Wenn sie sich abschotten und auf Begegnungen mit anderen verzichten müssen, trifft sie das besonders hart, denn Ältere sind in kein berufliches Netz mehr eingebunden, und nicht selten lebt ihre Familie weit entfernt.
Aber wir können etwas tun. Wenn Gewerkschaftsversammlungen abgesagt werden müssen, einfach mal zum Telefon greifen und Menschen anrufen, die man dort gerne getroffen hätte. Oder: Spazierengehen und andere Menschen beobachten, Teil also des neuen gesellschaftlichen Alltags sein – mit Distanz. Wir können Corona als Anstoß nehmen, das Digitale zu entdecken. Die Digitalisierung kann helfen, die Krisenzeit zu überstehen. Wir können selbst aktiv werden. In meiner Nachbarschaft gibt ein älteres Paar jeden Abend um 19 Uhr ein paar Minuten lang ein kurzes Konzert. Sie spielt Trompete, er Posaune. Das gibt allen in der Umgebung Kraft.
Corona macht auch sichtbar, dass wir nicht über abstrakte Begriffe diskutieren, wenn wir von Teilhabe und Selbstbestimmung sprechen. Es darf nicht sein, dass Heimleitungen in Altenheimen allein entscheiden, wie Ältere mit Risiken umzugehen haben. Die GEW macht sich daher für die Selbstbestimmungsrechte von Älteren stark. Allerdings: Einfach nur darüber abzustimmen, wie viel Risiko man eingehen möchte, ist in Zeiten der Pandemie keine Option. Doch Ältere in die Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen, zum Beispiel über die Bewohnerbeiräte, ist eine Frage des Respekts und unerlässlich in einer freien, humanen Gesellschaft. Dafür setzen wir uns gemeinsam mit dem DGB und Senior*innenorganisationen gegenüber der Politik ein.
Frauke Gützkow, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der GEW, verantwortlich für Seniorinnen- und Seniorenpolitik
Demokratie von unten
Außerdem müssten auch die Grundrechte Älterer gewahrt werden, soziale Teilhabe ist eines davon. Müntefering: „Dafür muss der Staat die Verantwortung übernehmen.“ Häufig geben die Heime dem Infektionsschutz absoluten Vorrang vor den Bedürfnissen der Menschen nach sozialer Nähe, Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung. Doch die Entscheidung über solche Maßnahmen dürfe nicht den Heimleitungen aufgeladen werden. Oft haben sie nach Münteferings Beobachtung die Sorge, etwas falsch zu machen oder verklagt zu werden. Deshalb steht für sie der Schutz vor Ansteckung im Vordergrund. „Das können nur die Kommunen regeln“, meint Müntefering, „mit mehr Unterstützung der Länder.“
Vor der Pandemie hat Kujawa ihre 92-jährige Schwester alle fünf Tage im Pflegeheim besucht. Als keine Besuche mehr erlaubt waren, schickte sie ihr alle fünf Tage eine Postkarte mit einem Tiermotiv. Die Pflegekräfte hätten sie nebeneinander an den Schrank gehängt, gut sichtbar. „Alle im Pflegeheim waren sehr liebevoll“, sagt Kujawa. Ihrer Meinung nach sollten sich Pflegekräfte in der Gewerkschaft organisieren. Und die Bewohnerinnen und Bewohner sollten ihr Recht auf Mitbestimmung wahrnehmen und stärker in Beiräten mitwirken. Kujawa: „Mein Credo, gerade für solche Zeiten, lautet: Demokratie von unten. Das gilt für alle, ob alt oder jung.“