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Bedrohte Wissenschaftler*innen

„Die Bandbreite ist groß“

Fast die Hälfte der Wissenschaftler*innen hat bereits eine Form von Angriff wie Beleidigungen oder Anfeindungen erlebt. Betroffene können sich an die bundesweite Beratungsstelle Scicomm-Support wenden.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erleben immer häufiger Beleidigungen und Hass gegen sich – vor allem in den sozialen Medien. (Foto: IMAGO/Guido Schiefer)

Anfang des Jahres hatte der Politikwissenschaftler Daniel Saldivia Gonzatti so viele Interviewanfragen wie nie zuvor: über 45 in einem Monat. Gonzatti forscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu Protest und Radikalisierung. Als im Zuge der Proteste der Bauern im Winter eine aufgebrachte Menge Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) daran hindern wollte, eine Nordsee-Fähre zu verlassen, war Gonzattis Expertise sehr gefragt. Er gab Fernsehinterviews, ordnete ein und äußerte sich unter anderem zur gestiegenen Gewaltakzeptanz. „Daraufhin habe ich viele Diffamierungsnachrichten bekommen und auch rassistische Äußerungen erlebt“, sagt er. 

Gonzatti gehöre zu den „fremdländischen Linksextremisten, die die deutschen Hochschulen unterwandern“, hieß es etwa auf dem Kurznachrichtendienst X. Oder: „Wenn in diesem Land wieder Ordnung einkehrt, bringen wir dich dahin zurück, wo du hingehörst.“ Der Wissenschaftler war schockiert – und verzweifelt. „Man überlegt sich dann gut: Wann gehe ich ans Telefon? Mit wem spreche ich da? Von wem bekomme ich eine E-Mail? Klicke ich auf diesen Link oder lieber nicht?“

Frauen häufiger in der Schusslinie als Männer

Wie ihm geht es mittlerweile vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Sie erleben Beleidigungen und Hass in den sozialen Medien, Anfeindungen per E-Mail oder auf Veranstaltungen. Eine repräsentative Umfrage des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung vom Mai 2024 fand heraus, dass 45 Prozent der befragten 2.600 Forschenden schon Wissenschaftsfeindlichkeit erlebt haben, meist in den sozialen Medien. Am häufigsten werde ihre Kompetenz angezweifelt oder die Forschungsergebnisse würden herabgesetzt und schlechtgemacht. Oft seien die feindseligen Äußerungen diskriminierend, rassistisch und sexistisch. Und: Frauen gerieten weit häufiger in die Schusslinie als Männer, so die Ergebnisse der Studie.

Einen Grund für die zunehmende Aggression sieht Studienleiter Clemens Blümel vor allem darin, dass Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Expertise stärker als früher in der öffentlichen Debatte kommuniziert würden und öfter als Grundlage für gesellschaftlich und politisch umstrittene Entscheidungen dienten; dies sei etwa in der Corona-Pandemie der Fall gewesen. „Das erzeugt vermehrt Spannungen“, so Blümel. „Die Wut über politische Entscheidungen oder das Gefühl, dass die eigenen menschlichen Handlungsmöglichkeiten begrenzt werden, können sich dann auch in Angriffen gegen Forschende niederschlagen.“

„Häufig sind es politisch motivierte Versuche, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zurückzudrängen oder zum Verzweifeln zu bringen.“

Seit einem Jahr hilft den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die bundesweite Beratungsstelle Scicomm-Support. Sie ist der erste Anlaufpunkt bei Anfeindungen und unsachlichen Konflikten in der Wissenschaftskommunikation. Geschaffen wurde das Angebot vom Bundesverband Hochschulkommunikation und Wissenschaft im Dialog. Die Scicomm-Hotline ist sieben Tage die Woche von 7 bis 22 Uhr besetzt.

Auch Protestforscher Gonzatti hat hier angerufen. Wie Scicomm-Support unterstützen kann, hängt von der jeweiligen Situation ab. Zuerst einmal hört man zu und begutachtet die Nachrichten und Kommentare, analysiert die Lage und überlegt dann, welche Schritte notwendig sind. Von Scicomm-Support erfuhr Gonzatti zuerst einmal, dass er bis dahin genau richtig reagiert hatte, nämlich: gar nicht. „Man sollte nicht auf beleidigende, rassistische oder angriffslustige Kommentare reagieren“, habe man ihm geraten. „Häufig sind es politisch motivierte Versuche, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zurückzudrängen oder zum Verzweifeln zu bringen.“ Denn oft gelten die Angriffe nicht der Person selbst, sondern eher dem Thema an sich.

„Sofern die Betroffenen einverstanden sind, suchen wir immer gemeinsam mit der zuständigen Hochschule nach einer Lösung.“ (Matthias Fejes)

Rund 25 Menschen arbeiten ehrenamtlich bei der Hotline. „Die meisten sind Kommunikationsleiterinnen und -leiter an Hochschulen“, erklärt Matthias Fejes, „also Kommunikationsprofis, die wissen, wie man mit diesen Situationen umgeht, und die entsprechend kompetent beraten können.“ Fejes ist Pressesprecher an der Technischen Universität Dresden sowie Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Hochschulkommunikation und dort für Scicomm-Support zuständig. Er berät die Betroffenen nicht nur in Fragen der Kommunikation, sondern auch juristisch, unterstützt von einer Medienkanzlei, und vermittelt – falls nötig – psychologische Betreuung. „Sofern die Betroffenen einverstanden sind, suchen wir immer gemeinsam mit der zuständigen Hochschule nach einer Lösung“, sagt Fejes.

Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler melden sich ohnehin zuerst bei ihrer Hochschule, meist in der Kommunikationsabteilung. Wie die Hochschulen mit diesen Fällen umgehen, ist ganz unterschiedlich und hängt wiederum von der konkreten Situation ab: Kommt die Anfeindung von einer Einzelperson oder ist es ein Shitstorm, kommt sie aus der Hochschule oder von Externen, läuft sie online oder offline? Die Kommunikationsabteilungen beobachten bei Angriffen in den sozialen Medien zum Beispiel die jeweiligen Kanäle für die Betroffenen. Wenn Redaktionen nicht korrekt berichten, gehen sie dagegen vor, sie informieren die Universitätsleitung oder leiten den Fall an eine andere interne Abteilung weiter, zum Beispiel die Antidiskriminierungsstelle.

Anfeindungen auch von links und aus der Wissenschaft selbst

In der Regel können die Kommunikationsabteilungen erste Empfehlungen geben. Denn auch sie haben mit Anfeindungen gegen die Hochschulen auf den Social-Media-Kanälen zu tun. Das sagt zum Beispiel Karin Bauer-Leppin, Leiterin der Stabsstelle Kommunikation und Marketing der Freien Universität Berlin. „Wir können Betroffene beraten, ob sie auf ihrem Kanal reagieren sollen oder nicht“, sagt sie. „Manchmal empfehlen wir auch, unser Rechtsamt zu kontaktieren, falls es Straftatbestände gibt. Aber eigentlich raten wir, sich an Scicomm-Support zu wenden. 

Dort sind Ressourcen vorhanden, die richtige Strategie zu erarbeiten oder direkt rechtliche Schritte einzuleiten.“ Aus welchem Milieu kommen die vielen Beleidigungen, Anfeindungen und Drohungen gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler? „Die Bandbreite ist groß“, sagt Fejes. „Oft sind die Angegriffenen Projektionsflächen für Themen, die eine besonders große gesellschaftliche Bedeutung haben.“

„Was früher ein Hassbrief oder eine Hassmail von einer Person mit einem Absender war, ist jetzt ein öffentlicher Angriff einer anonymen Person, an den sich viele andere anonym anschließen.“ (Karin Bauer-Leppin)

Diese Erfahrung macht auch Bauer-Leppin. „Es ist oft überraschend, aus welcher Ecke Anfeindungen kommen“, sagt sie. Nicht nur aus rechtsextremen und AfD-nahen Kreisen, sondern auch von links und aus der Wissenschaft selbst. „Verstärkt haben das alles die sozialen Medien“, sagt sie. „Was früher ein Hassbrief oder eine Hassmail von einer Person mit einem Absender war, ist jetzt ein öffentlicher Angriff einer anonymen Person, an den sich viele andere anonym anschließen.“

Gonzatti hat mit Hilfe von Scicomm-Support vorsorglich eine Meldesperre beantragt. Er fühlt sich gestärkt. Sollte so etwas noch einmal passieren, sei er vorbereitet, sagt er. „Die Anfeindungen halten mich nicht davon ab, meine Expertise anzubringen, wenn ich das passend finde.“