Diskriminierungskritische Bildungsarbeit
Die Antidiskriminierungsbande
Das Reclam-Gymnasium in Leipzig ist eine von rund 3.500 Schulen in Deutschland, die sich einem besonderen Netzwerk verschrieben haben: „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Diese Aufgabe müssen Menschen dort täglich leben.
Eine Woche nach dem rassistischen Attentat in Hanau, bei dem im Februar neun Menschen erschossen wurden, greifen sie am Anton-Philipp-Reclam-Gymnasium in Leipzig zur Kreide. In einer Hofpause schreiben Schülerinnen und Schüler in bunten Farben auf die grauen Pflastersteine, was ihnen am Herzen liegt. „Menschenrechte statt rechte Menschen“ steht danach auf den grauen Steinplatten. „Keine Macht dem rechten Terror“ und „Schließt die Tür, wenn der Rassismus anklopft!“ In einem Zeitraffervideo von der Aktion sieht man, wie die Jugendlichen umherwuseln, wie immer mehr Schriftzüge entstehen und schließlich ein Schulhof zurückbleibt, der ein deutliches Statement setzt gegen Menschenfeindlichkeit, Diskriminierung und Rechtsextremismus. Und für ein friedliches Zusammenleben – nicht nur an dieser Schule.
„Die Gruppe ist wichtig, weil in der Gesellschaft vieles schiefläuft.“ (Mathilde Bäslack)
Die Kreideaktion ist einer der Husarenstreiche der „Antidiskriminierungsbande“ am Reclam-Gymnasium, das einen besonderen Titel trägt: „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Knapp zwei Jahre zuvor, im März 2018, wurde das Siegel vom gleichnamigen Netzwerk mit dem Kürzel „SoR – SmC“ verliehen, das im Juni dieses Jahres sein 25-jähriges Jubiläum beging. Seither gehört das Gymnasium zu den bundesweit knapp 3.500 Schulen, die dieses Logo an ihrer Eingangstür tragen. Sie alle eint das Ziel, das Schulklima bewusst ohne Diskriminierung, Mobbing und Gewalt mitzugestalten. Die Plakette erinnert die Schulen tagtäglich an ihre Pflicht, die Grundsätze einzuhalten, die sie angenommen haben. „Die Gruppe ist wichtig, weil in der Gesellschaft vieles schiefläuft“, sagt Zwölftklässlerin Mathilde Bäslack, die sich seit vier Jahren in der „Bande“ engagiert. „Und weil das Thema im Unterricht zu kurz kommt“, fügt Mitschülerin Carolin Salomon hinzu, die auch schon vier Jahre dabei ist. Den Jugendlichen geht es dabei nicht nur um den Kampf gegen Rassismus, sondern gegen viele Formen der Diskriminierung: Sexismus, Homophobie, Antisemitismus.
An einem späten Oktobernachmittag sitzt Aniela Zenker im belebten Jugendstil-Café „Grundmann“ in der Leipziger Südvorstadt und schaut etwas frustriert aus dem Fenster. Die Lehrerin für Englisch und Spanisch unterstützt die „SoR“-Initiative am Reclam-Gymnasium seit zwei Jahren. Doch viele Aktionen, die sich die „Bande“ zuletzt vorgenommen hat, fallen zurzeit wegen der Corona-Pandemie aus. Eigentlich wollten sie noch dieses Jahr Projekttage mit dem SoR-Netzwerk ausrichten und Antisemitismus-Workshops im jüdischen Kultur- und Begegnungszentrum Ariowitsch-Haus organisieren. Die Finanzierung war gerade im Oktober mithilfe des Beauftragten für das Jüdische Leben der sächsischen Landesregierung geklärt. Dann kam der nächste Lockdown. Ob und wann es die Workshops nun noch geben wird, ist offen.
„Möge Courage allzeit mit dir sein“
Auch das Interview für die E&W kann nicht an der Schule stattfinden, Fotos dürfen nur vom öffentlichen Fußweg aus mit Mundschutz und Abstand gemacht werden – weil Gäste derzeit nur in besonders dringenden Ausnahmefällen zugelassen sind. Dafür zeigt Zenker im Café Fotos und Flugblätter von Aktionen aus der jüngeren Zeit. Eine Lesung und Ausstellung mit dem Leipziger Historiker Sascha Lange über die Leipziger Meuten: Die Gruppen von Jugendlichen aus der Arbeiterschicht hatten in den 1930er-Jahren dem NS-Regime die Stirn geboten, bis sie inhaftiert wurden. Davor die erste Gruppenfahrt der Reclam-„Bande“ nach Dresden samt alternativer Stadtführung von Geflüchteten. „Wir saßen noch bis in die Nacht zusammen und haben über mögliche Aktionen geredet“, erzählt Zenker. „Im Alltag finden wir dazu fast nie Zeit.“
Die „Bande“, die vor allem aus Jugendlichen der 8. bis 11. Klassen besteht, sieht sich sonst nur einmal in der Woche zu Organisationstreffen, 20 Minuten in der Frühstückspause. Umso erstaunlicher ist, was sie alles auf die Beine stellt: Vorstellungsrunden in den neuen 5. Klassen, Durchsagen zu aktuellen Ereignissen im Schulfunk, Stolpersteine putzen, Projekttage organisieren, Spenden sammeln für die Seenotretter von Sea-Watch und Mission Lifeline. Kurz vor Weihnachten 2019 haben sie einen „SoR-Soli-Kuchenbasar“ veranstaltet. Aus den Kuchenstücken ragten kleine bunte Papierfähnchen hervor: „Refugees welcome!“, „Kein Mensch ist illegal“ und „Esst Nazis!“ stand darauf. 173 Euro Einnahmen haben sie an Pro Asyl gespendet. Im September haben sie mit einem weiteren Basar die Projektkasse gefüllt und knallrote Antidiskriminierungs-Armbändchen herstellen lassen. Diese tragen nicht nur alle zehn bis zwölf Mitglieder der „Bande“, sondern auch viele andere Schülerinnen und Schüler am Reclam und an anderen Schulen in Sachsen. Auf einem kleinen Begleitzettel steht: „Möge Courage allzeit mit dir sein.“
Hakenkreuz im Klassenchat
Mit 1.060 Schülerinnen und Schülern und mehr als 100 Lehrkräften ist „das Reclam“ das größte Gymnasium in Leipzig. Etwa ein Drittel der Familien hat einen Migrationshintergrund, zwei von fünf Klassen pro Jahrgang lernen in einer vertieften sprachlichen Ausbildung bilingual Französisch. „Wir sind in Leipzig das bunteste Gymnasium“, sagt Schulleiterin Petra Seipel. Das liege nicht nur am Standort, sondern auch am zweisprachigen Unterrichtsprofil, das binationale und andere frankophile Familien aus der ganzen Stadt anziehe. „Das internationale Klima ist nicht immer konfliktfrei“, sagt Seipel, „aber sehr anregend und inspirierend.“
Doch selbst eine „Schule ohne Rassismus“ ist keine Insel der Seligen. Auch am Reclam-Gymnasium sind schon Hakenkreuze an Tafeln geschmiert worden. Einmal haben sich Provokateure Zugang zum Schulnetzwerk verschafft und die Cursor-Symbole in Hakenkreuze verwandelt. Erst vor ein paar Monaten kam es zu antisemitischen Schmähungen in einem Klassenchat. Danach seien die Schülerinnen und Schüler der „Antidiskriminierungsbande“ in alle sechs Klassen des betroffenen Jahrgangs gegangen und hätten den Mitschülern erklärt, dass eine rote Linie der Schule deutlich überschritten ist, erzählt Zwölftklässler Luis Bartel. Auch die Gruppe bleibt nicht immer ganz verschont von Angriffen. Ein großes, selbst gemaltes Transparent der „Bande“ ist im vergangenen Jahr auf wundersame Weise verschwunden.
„Gerade als in unserer Gesellschaft rassistische und menschenfeindliche Äußerungen häufiger und salonfähiger wurden, konnten wir ein klares Signal dagegensetzen.“ (Petra Seipel)
Von der Schulleitung bekommt die „Bande“ jedoch Rückendeckung. „Ich versuche, sie mit dem nötigen Freiraum zu unterstützen, damit sie sich austauschen und stärken können“, sagt Schulleiterin Seipel. Das Engagement sei sehr wertvoll, gerade weil es eine Schülerinitiative ist. „Sie leisten Aufklärungsarbeit, sie mahnen, unsere Werte zu achten und sie gehen auch in die Auseinandersetzung, wenn es nötig ist“, sagt Seipel. „Sie wirken manchmal wie eine Feuerwehr.“ Das Siegel als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ sei für die Schulleitung auch eine gute Argumentationsbasis, sich gegen jede Form der Diskriminierung auszusprechen. Die Anerkennung des Titels 2018 sei genau zur richtigen Zeit gekommen: „Gerade als in unserer Gesellschaft rassistische und menschenfeindliche Äußerungen häufiger und salonfähiger wurden, konnten wir ein klares Signal dagegensetzen.“
Den Anfang hatte vor gut vier Jahren eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern aus einer 10. Klasse gemacht, die sich damals als Schülersprecher engagierten. Bei einer Veranstaltung des Stadtschülerrates lernten sie das SoR-Netzwerk kennen und beschlossen: Das wollen wir auch! „Wir wollten Stellung beziehen, dass für Rassismus und andere Formen der Diskriminierung bei uns kein Platz ist – auch wenn wir mit Rassismus an unserer Schule kein großes Problem hatten“, erzählt Robert Coumbassa. Der heute 20-Jährige, der mittlerweile Erziehungswissenschaften und Ethnologie studiert, hat selbst eine dunklere Hautfarbe. Er kennt die Blicke anderer, die den Alltag manchmal belasten. „Es waren diese Blicke“, sagt er, „gegen die wir etwas tun wollten.“
„Wenn die Schüler sich für diese Ziele engagieren und etwas auf die Beine stellen, bringt es mehr, als wenn es von der Autorität der Lehrkräfte kommt.“ (Robert Coumbassa)
Im folgenden Schuljahr engagierte sich schon ein Dutzend Schülerinnen und Schüler für die Idee und erreichte bald die offizielle Anerkennung des Netzwerks. Mehr als 70 Prozent aller Schulmitglieder mussten in einer geheimen Abstimmung für die Selbstverpflichtung des Netzwerks als Courage-Schule stimmen. Dazu gehören: die Entwicklung nachhaltiger Projekte gegen jede Form von Diskriminierung, der Einsatz gegen Gewalt und die jährliche Organisation mindestens eines Projektes zum Thema Diskriminierung. Die deutliche Mehrheit des Gymnasiums stand. Zugleich gewannen die engagierten Schülerinnen und Schüler die renommierte Leipziger Galerie für zeitgenössische Kunst als Patin. „Wenn die Schüler sich für diese Ziele engagieren und etwas auf die Beine stellen, bringt es mehr, als wenn es von der Autorität der Lehrkräfte kommt“, sagt Coumbassa.
Gegen den Rechtsruck der Gesellschaft
Lehrerin Zenker legt großen Wert darauf, die Gruppe nicht zu leiten, sondern zu begleiten. „Ich bemühe mich sehr um Augenhöhe und will nicht mehr als eine Unterstützerin sein“, betont sie. Dass gerade sie die Rolle der Mentorin übernahm, ist vielleicht kein Zufall. Mit politischem Engagement ist die 41-Jährige vertraut: Im Jahr der Leipziger Montagsdemos und des Mauerfalls ist sie zehn, elf Jahre alt. An der Leipziger Uni lernt sie später in den Fächern Politik, Anglistik und Spanisch linke Plenarstrukturen von innen kennen. Sie engagiert sich viele Jahre im alternativen Connewitzer Sportclub „Roter Stern“ – ein Verein, der sich deutlich unterscheiden will von einer teils rechtsextrem geprägten sächsischen Fußballszene. In ihrem privaten Umfeld erlebt die Lehrerin mitunter, wie dunkelhäutige Menschen angegangen werden.
Umso mehr schätzt Zenker die Vielfalt der Schule. „Wir wollen einem Klima des Wegsehens und dem Rechtsruck der Gesellschaft etwas entgegensetzen“, sagt sie. Dass die „Bande“ dabei manchmal unbequem ist, nimmt sie in Kauf. „Die Menschen an unserer Schule sollen nicht vergessen, hin und wieder nach links und rechts zu schauen.“ Dies gelte nicht minder an einer leistungsorientierten Schule, die keine soziale Brennpunktschule im klassischen Sinne sei. Im Kollegium erntet sie viel Sympathien und Wertschätzung. Aber es gibt auch Kolleginnen und Kollegen, die sich desinteressiert zeigen. „Manchmal“, sagt Zenker, „steh‘ ich ganz schön allein im Tor.“