Das Schild steht immer noch auf dem Wohnzimmerschrank: „Welcome to Bockenheim, Family Alhameadi“. Damit hatten Anette und Samantha sie am Frankfurter Hauptbahnhof empfangen – Manal, ihren Mann Loay und die Kinder Obay, May und Alma. Über dem Sofa hängt ein Bild mit Alpenpanorama. Vom Flohmarkt. Es bedeute, dass „wir jetzt hier ein neues Leben haben“, betonen Manal und Loay. Mitte September 2015 ist die syrische Familie nach 45 Tagen per Bus, mit Schlauchboot, Schiff, Taxi und zu Fuß über die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Die 21.000 Euro für die Schlepper, zusammengekratzt von Verwandten und Freunden, zahlen sie bis heute zurück. Auf dem Fußmarsch zur österreichischen Grenze stießen sie auf Marija, die einer Wiener Freiwilligen-Organisation angehört. Ihr gelang es, die Familie nach Wien zu bringen. In Sicherheit.
Ihre schlimmste Fluchterfahrung? Die Gefängnisaufenthalte in der Türkei, in Griechenland und Ungarn. In der griechischen Haft hätten sie zwei Tage nichts zu essen und zu trinken gehabt, berichtet Loay. „Ihr könnt ja Wasser aus der Toilettenspülung trinken“, hieß es. „Das haben wir auch getan“, sagt Manal leise. Und ebenso leise: „Im Militärgefängnis in Budapest waren wir zwei Tage wie Vieh in einem Lager mit zirka 1.500 Menschen eingepfercht mit zwei Toiletten.“ Auch hier kaum eine Mahlzeit. Handys wurden einkassiert, Fingerabdrücke abgenommen.
Endlich wieder Mensch
In Wien habe er sich zum ersten Mal wieder als Mensch gefühlt, erzählt Loay. Essen stand bereit, Datteln und Nüsse. Ein Zimmer zum Übernachten. Ein Bad. Marija vermittelte auch den Kontakt zu Anette in Frankfurt am Main, die die Familie vorübergehend als Gäste in ihrer Bockenheimer WG aufnahm. Nächste Station: Gießen, die hessische Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Antrag auf politisches Asyl. Ankunft in einem nordhessischen Aufnahmelager.
Sechs Wochen verbrachte die Familie in der Notunterkunft Beberbeck, einem Stadtteil Hofgeismars, Landkreis Kassel, zusammen mit etwa 200 Geflüchteten. Ein ehemaliger Gutshof, abgelegen am Waldrand. Kein angenehmer Aufenthalt, dennoch: „We know, we are safe“, sagt der 14-jährige Obay. Das Schlimmste sei das Warten gewesen. Darauf, dass es weitergeht, auf Unterricht, auf die Chance, Deutsch zu lernen. Trotz aller Widrigkeiten, sagt seine Mutter, habe sie das Camp gemocht. Sie hatten zu essen, eine Bleibe – und etwas zu tun: Sie und ihr Mann übersetzten für andere Camp-Bewohner vom Arabischen ins Englische, bei Arztbesuchen, im Krankenhaus. „Wir waren froh, helfen zu können“, erinnert sich die 45-Jährige. „Gar nichts zu tun und nicht zu wissen, was wird“ sei nicht leicht zu ertragen, fügt ihr gleichaltriger Mann hinzu.
Mit viel Glück gelang es der Familie, wieder nach Frankfurt zu kommen. Das BAMF quartierte sie in die Cordiersiedlung ein, zum Abriss vorgesehene Sozialwohnungen im Gallus, dem alten Arbeiterviertel der Bankenstadt – und temporäre Unterkunft für Geflüchtete. Mit Hilfe von Freunden fanden sie eine eigene Wohnung in Frankfurt-Höchst. Mit seinen orientalischen Läden und den unterschiedlichen Nationalitäten erinnert sie der Stadtteil an ihr Herkunftsland. „A very open place“, lobt Obay. „A lot of my friends are Turkish.“ Die zehnjährige May liebt das Fahrradfahren am Main und ihren Turnverein. Ihre Schwester, die neunjährige Alma, ist Mitglied im Höchster Schwimmclub.
Manal will trotzdem umziehen, weg aus der unmittelbaren Nähe des S-Bahnhofs, wo abends Haschisch angeboten werde. Wohin? Am liebsten nach Bockenheim, antwortet die zierliche Frau mit strahlenden Augen. Sie hätten dort „viele nette Menschen“ kennengelernt, die sie sehr unterstützten, und Freunde geworden seien. Hilfe, gibt Manal zu, habe sie weniger in den Moscheen als bei den Kirchen gefunden. Weil es dort „Willkommenspartys“ gegeben habe, sagt May begeistert. Kinderfeste. Flohmärkte.
„So viel Bürokratie.“ (Manal Alhameadi)
Das Jahr, das bis zur Erteilung des Aufenthaltsrechts verging, haben die Alhameadis gut genutzt. Bereits Ende 2015 besuchten die Kinder Schulen und Hort, lernten schnell Deutsch. Manal und Loay wollten nicht warten, bis sie an einem Integrationskurs teilnehmen konnten. Dank der Initiative „Teachers on the Road“, die Zugewanderten kostenlos Deutschkenntnisse vermittelt, paukten sie Basiswissen. Notierten die Konjugationen auf einem Plakat und hängten es sich zu Hause an die Wand. Am 13. September 2016 kam der positive Asylbescheid, zunächst befristet auf drei Jahre. Die Aussichten auf Verlängerung sind günstig.
Manal und Loay mussten sich während dieser Zeit um vieles kümmern: Einschulung der Kinder, Gespräche mit dem städtischen Schulamt, mit Schulleitungen. Anmeldung bei Integrationskursen, die das Jobcenter finanziert. Wieder viele Anträge. Alles Amtsdeutsch. Ohne Hilfe blicke da keiner durch, meint Loay. Zum Glück fand sich im Frankfurter Freundeskreis immer jemand, der sie auf Behördengängen begleitete, übersetzte, ihre Lage erklärte. Einmal hätten sie sechs Stunden gebraucht, allein um ein Formular vom Jobcenter auszufüllen. „So viel Bürokratie“, stöhnt Manal rückblickend. Wer als Zugewanderter keinen Menschen habe, der ihn unterstütze, müsse zu einem Übersetzungsbüro, meint Loay. Teuer, und eine zusätzliche Hürde.
Es ist nicht einfach, sich zurechtzufinden, aber die Alhameadis beißen sich durch. Ihre Chance: Sie sind gut ausgebildet. Und sehr rührig. Manal besucht die Teestuben der Kirchen, Treffpunkte für Geflüchtete, trifft auf viel Hilfsbereitschaft – und hilft selbst, wo sie kann. Drei pensionierte Lehrerinnen lesen und reden mit den Kindern nachmittags noch zusätzlich deutsch. Unterricht allein, ob in Schule oder Integrationskurs, reiche nicht aus, Kommunikation sei wichtig, wissen die Eltern.
Obay ging vier Monate in eine Eingliederungsklasse einer Hauptschule. Sprachförderung. Wechselte dann, weil er besser Englisch spricht, auf eine internationale Schule. Eigentlich zu teuer für die Familie. Aber eine Freundin der Familie setzte sich dafür ein, dass Obay dort einen Platz und ein Stipendium erhält.
May besucht jetzt die 5. Klasse eines Gymnasiums. Alma die 4. Klasse einer Grundschule in Höchst. Alma ist stiller als ihre Geschwister, verlässt das Zimmer, wenn die Eltern von der Flucht erzählen. Knapp ein Jahr lang war die Familie vom Jobcenter abhängig. Schwierig für sie. Die Eltern wollten selbst Geld verdienen. Bei einem Stromnetzwerkanbieter in Darmstadt fand Loay eine Stelle als Verantwortlicher für Wartungsarbeiten, befristet auf ein halbes Jahr. Ein Anfang. Der schlanke Mann hat in Syrien Petrochemie studiert, als Ingenieur bei einem Ölunternehmen in Katar gearbeitet. Die Kinder gingen auf englische Schulen. Manal machte in einem Fernstudium ihr IT-Diplom. Bis man die Alhameadis 2013 aus Katar auswies, weil sie Syrer waren.
Für eine bessere Bildung
In Syrien gab es keine Arbeit. Es war Krieg, die Familie lebte nahe der libanesischen Grenze von Erspartem. Unterricht war nicht möglich. Die meisten Schulen lagen in Trümmern. Als Loay beinahe einem Selbstmordanschlag zum Opfer fiel, entschloss sie sich, das Land zu verlassen. Ihr Ziel: Deutschland. Obay: „Wegen des Fußballs.“ Seine Eltern: „Wegen des Bildungssystems, der Universitäten.“ Obay, der Deutsch gut versteht, aber lieber auf Englisch antwortet, hat „mixed feelings“, „gemischte Gefühle“, wenn er sich daran erinnert, wen er alles zurücklassen musste: Großeltern, Verwandte, Freunde, die er nur noch per Skype sieht.
Wie wird es weitergehen? Obay träumt davon, Rapper zu werden, hat schon Songtexte geschrieben. Aber wahrscheinlich werde er doch Arzt oder Ingenieur wie sein Vater. Die Gymnasiastin May spielt nach dem Nachmittagskaffee Geige. Das Instrument ist ein Geschenk einer Freundin der Familie. Was sie mal werden will? „Schauspielerin“, sagt sie selbstbewusst. Alma zieht es eher in Richtung Pferde.
Das große Thema, der große Druck: unbefristete Arbeitsverhältnisse. Auf keinen Fall wieder vom Jobcenter abhängig sein. Loay bemüht sich darum, dass die hessische Ingenieurskammer sein Diplom akzeptiert. Manals Bachelor in Anglistik ist mittlerweile in Deutschland anerkannt. Zurzeit arbeitet sie bei einem Wohlfahrtsverband als Seminarassistentin. „Ein Mini-Job.“ Zu Hause büffelt die ausgebildete Informatikerin am PC für ihre Fortbildung als Software-Entwicklerin. Anfang 2019 wollen Manal und Loay das C1-Zertifikat für Deutsch schaffen. Sie wollen eine gute Perspektive – hier. Dafür tun sie viel.