Als deutscher Schulleiter war ich von 2003 bis 2009 am Istanbul Lisesi (Istanbuler Gymnasium) tätig. Diese Schule ist integraler Bestandteil des deutschen Auslandsschulwesens, auch wenn sie in vielerlei Hinsicht nicht dem Bild einer klassischen deutschen Auslandsschule entspricht: Schulträger ist nämlich die türkische Republik, das Istanbul Lisesi ist also insofern ein staatliches türkisches Gymnasium und gleichzeitig deutsche Auslandsschule. Denn es haben nicht nur alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, die deutsche Reifeprüfung (Abitur) abzulegen, es wird auch ein wesentlicher Teil des Unterrichts (gut 2/3 der Stundentafel) von den 35 dort tätigen vermittelten deutschen Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Das Lise (Lycée / Gymnasium), welches einfach den anspruchsvollen Namen seiner Heimatstadt trägt, ist mit 127 Jahren eine der ältesten, von der Gründung an nach modernen Erkenntnissen, Richtlinien und Lehrplänen arbeitenden Schulen des Landes. Gegründet wurde die Schule im Jahr 1884 von dem Mathematikprofessor Nadir Bey, der ebenso wie der spätere Staatsgründer der Republik, Mustafa Kemal Atatürk, aus Thessaloniki, der damals modernsten und am weitesten entwickelten Großstadt des Osmanischen Reiches stammte. Wichtigste Fremdsprache an der Schule war in den ersten Jahrzehnten – wie im Osmanischen Reich üblich – natürlich Französisch. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs und damit der sog. deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft wurden bis zu 22 deutsche Lehrer an das damalige Istanbul Sultanisi (Istanbuler Sultansschule) vermittelt, die wie heute auch andere wichtige Fächer in der fremden Sprache unterrichteten. Deutsch blieb dann bis in die zwanziger Jahre die wichtigste Fremdsprache an der Schule. Nach dem Zweiten Weltkrieg wur-den ab Mitte der fünfziger Jahre auf Antrag und Bitten der türkischen Republik erneut deutsche Lehrerinnen und Lehrer nach Istanbul vermittelt, die an der Schule die Deutsche Abteilung konstituierten. Seitdem ist das Istanbul Lisesi ein wesentlicher Pfeiler der deutschen Bildungs- und Kulturarbeit in der Türkei. Zahlreiche Wissenschaftler, Mediziner, Wirtschaftsführer, Journalisten und auch Politiker sind in den vergangenen Jahrzehnten aus dieser Schule hervorgegangen und ganz häufig bereit und in der Lage, als lebendige Brücken zwischen unseren beiden Ländern zu fungieren.
Vielfältiges Angebot
Der Standort Türkei zeichnet sich insgesamt durch eine besondere Vielfalt und Reichhaltigkeit des deutschen Angebots im Schul- und Bildungsbereich aus. Neben dem Istanbul Lisesi gibt es die Deutsche Schule Istanbul (Alman Lisesi), die Ernst-Reuter-Schule in Ankara (Privatschule der deutschen Botschaft) die Grundschule Istanbul (sog. Botschaftsgrundschule), die Deutsche Schule in Izmir und das Lehrerentsendeprogramm an Anadolu-Gymnasien (Anadolu Liseleri). Jede dieser o. g. Schulen steht für eine bestimmte Epoche der deutsch-türkischen Beziehungen und der Entwicklung des Auslandsschulwesens. Die Deutsche Schule Istanbul wurde 1868 von deutschen Handwerkern und Kaufleuten in Konstantinopel zunächst als evangelische Volksschule gegründet. (Aus der katholischen Volksschule entwickelte sich später die Österreichische Schule, die heute ebenfalls eine der wichtigsten fremdsprachlichen Schulen der Stadt ist.) Recht bald wurde aus der bescheidenen Volksschule eine große und renommierte Oberrealschule, die bereits ab Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als eine der ersten Auslandsschulen im Kaiserreich das Recht verliehen bekam, Reifeprüfungen abzunehmen und Abiturzeugnisse auszustellen. Das hohe wirtschaftliche und politische Interesse des Deutschen Kaiserreichs an einer Stärkung des Osmanischen Reichs als möglicher Bundesgenosse im weltpolitischen Konzert und gleichzeitig Ab-satzmarkt für deutsche Produkte und deutsches Know-how wird in dieser, in der damaligen Zeit besonderen Stellung und Bedeutung der Deutschen Schule quasi symbolisch deutlich. Die Geschichte der deutschen Arbeit am Istanbuler Gymnasium beginnt mit dem Jahr 1914. Die Berufung deutscher Lehrer nach Konstantinopel an das damalige Istanbul Sultanisi steht für die damals viel beschworene deutsch-türkische Waffenbrüderschaft auch im Bildungsbereich, die Schule wird zu Beginn des Weltkriegs im Gebäude der gerade aufgelösten französischen Ordensschule St. Benoit (im 18. Jhdt. gegründete, älteste ausländische Schule in Istanbul, heute immer noch existent) untergebracht. Die Wiederaufnahme der deutschen Arbeit am IL (seit 1930 auf der Spitze des zweiten Hügels von Ostrom im Gebäude der ehemaligen Schuldenverwaltung des Osmanischen Reiches untergebracht) während der fünfziger Jahre, eine direkte Folge des deutsch-türkischen Kulturabkommens von 1957, steht für das außenpolitische Interesse der jungen Bundesrepublik, die in den fünfziger Jahren überall auf dem Globus versucht, alte Beziehungen neu anzuknüpfen, Schulstandorte – so sie denn während des Zweiten Weltkrieges geschlossen werden mussten – wieder zu öffnen. Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik war in den fünfziger Jahren gleichbedeutend mit einem hohen finanziellen und personellen Engagement der jungen Bundesrepublik an zahlreichen Aus-andsstandorten. Mitte der 50er Jahre konnte übrigens auch das Alman Lisesi wieder geöffnet werden.
Botschaftsschule, Lehrerentsendeprogramm und Izmir
Die Ernst-Reuter-Schule in Ankara, auch Botschaftsschule genannt, gegründet 1952, steht mit ihrem Namen für eine ganz besondere Epoche in den deutsch-türkischen Beziehungen. Ernst Reuter, nach dem Krieg 1948 erster demokratisch gewählter Bürgermeister von West-berlin, war einer von zahlreichen deutschen Wissenschaftlern gewesen, die ab 1933 einem Ruf in die Türkei gefolgt waren und dort in Istanbul und Ankara maßgeblich am Aufbau eines modernen Universitätswesens mitgewirkt hatten. Der linke Demokrat Ernst Reuter hatte in dieser Zeit an der entstehenden Universität Ankara Stadtentwicklung und Stadtsoziologie gelehrt. So wie er waren zahlreiche aus politischen oder rassischen Gründen verfolgte Wissenschaftler der türkischen Republik immer dankbar, dass sie dort nicht nur überleben, sondern auch wissenschaftlich wirken konnten. Das Lehrerentsendeprogramm an die Anadolu-Schulen wurde nach einigen vorrangegangenen Erprobungen im Jahr 1986 fest installiert und sorgt nun bereits seit 25 Jahren dafür, dass an ca. zehn Anadolu-Schulen in der Türkei Schülerinnen und Schüler verstärkten Deutschunterricht unter Mithilfe und Assistenz entsandter deutscher Lehrerinnen und Lehrer erhalten. Entstanden ist das Anadolu-Programm im Zusammenhang mit den Maßnahmen, die den Familien ehemaliger türkischer „Gastarbeiter“ eine Rückkehr in ihre Heimat ermöglichen und erleichtern sollten. Auch das beschreibt eine besondere Etappe in den deutsch-türkischen Beziehungen in den letzten Jahrzehnten. Heute wissen wir, dass die Rückkehrerprogramme, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder aufgelegt worden sind, nicht unbedingt erfolgreich waren. Denn es wurden von solchen Maßnahmen vor allem Familien gefördert und zur Rückkehr in die Türkei angeregt, die schon in Deutschland auf eine gute Schulbildung ihrer Kinder Wert gelegt hatten, die sozial anerkannt und häufig gut integriert waren, die keine größeren ökonomischen oder sozialen Schwierigkeiten hatten. – Die Gründung der deutschen Schule Izmir im Jahre 2008 steht symbolisch für die zunehmende Bedeutung der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen in der Gegenwart. Mehrere Tausend deutsche Unternehmungen – von Großkonzernen bis zu kleineren mittelständischen Betrieben – haben inzwischen intensive wirtschaftliche Kon-takte und auch eigene Standorte in der Türkei. Das bedeutet natürlich, dass auch außerhalb von Istanbul und Ankara das Bedürfnis nach einer deutschen Schule entsteht.
Sonderstellung und besondere Leistung
Trotz dieser Entwicklungsperspektiven kommt natürlich den beiden großen Schulen, dem Alman Lisesi (Deutsche Schule Istanbul) und dem Istanbul Lisesi (Istanbuler Gymnasium) nach wie vor eine besondere Rolle zu. Das Alman Lisesi wird von ca. 800 (überwiegend türkischen) Schülerinnen und Schülern besucht; auf das Istanbul Lises gehen ca. 900 (fast ausschließlich türkische) Schülerinnen und Schüler. Das Besondere ist, dass jeweils nahezu 100 % eines Jahrgangs die Schule mit einem deutschen Zeugnis verlassen kann, entweder dem Reifezeugnis (Abitur) oder zumindest dem Deutschen Sprachdiplom II der KMK. Das ist insofern eine ganz besondere Herausforderung für alle Beteiligten – die Schülerinnen und Schüler ebenso wie die Lehrkräfte –, als den türkischen Schülern erst nach Abschluss der obligatorischen achtjährigen Grundschule gestattet ist, eine fremdsprachige Schule, eine Auslandsschule zu besuchen. An den beiden deutschen Schulen muss daher nach der Grundschule zunächst einmal das achte Schuljahr in einer sog. Vorbereitungsklasse (Hazırlık) quasi wiederholt werden; oberstes Ziel in dieser Klasse ist „lediglich“, dass die bereits 14 Jahre alten Jungen und Mädchen bis zum Ende dieses Jahres soviel Deutsch lernen, dass sie in den kommenden vier Jahren, im neunten bis zwölften Schuljahr, dem Unterricht in Deutsch, Mathematik, sämtlichen Naturwissenschaften in der für sie fremden Sprache Deutsch folgen können. Das schließt natürlich bis zum Abitur auch ein, dass Leistungserhebungen in diesen Fächern ausschließlich in Deutsch stattfinden, im Fach Englisch natürlich in der Zielsprache Englisch – alles aber bei deutschen Lehrkräften. An beiden Schulen zusammen verlassen pro Jahr auf diese Art und Weise ca. 280 bis 300 Absolventinnen und Absolventen die Schule, gut 200 von diesen haben zuvor die Reifeprü-fung bestanden und sind danach berechtig wie alle Absolventen deutscher Gymnasien mit diesem Zeugnis in Deutschland oder in anderen Ländern, in denen das Abiturzeugnis anerkannt ist, sofort zu studieren. Im Auslandsschulwesen stellt das eine Besonderheit, eine Ausnahme dar: In den Jahren 2008 und 2009 haben allein an diesen beiden Schulen am Standort Istanbul ungefähr so viele Abiturientinnen und Abiturienten die Schule verlassen wie an allen acht großen deutschen Auslandsschulen auf dem afrikanischen Kontinent (von Alexandria und Kairo bis nach Windhoek und Kapstadt). Das schmälert keineswegs die Leistungen der anderen, hebt aber gleichwohl die besonderen Leistungen, die die Schulen in Istanbul in der kurzen Schulzeit von nicht einmal fünf Jahren vollbringen, heraus. Auch sonst leisten die Schulen im Rahmen des deutschen Auslandsschulwesens Außerordentliches. Hier kann nur angedeutet werden in welch vielfältiger Art und Weise Kontakte nach Deutschland und zu deutschen Institutionen geknüpft werden, was unseren Schülerin-nen und Schülern in Istanbul ein sehr differenziertes, modernes und aktuelles Deutschlandbild vermitteln kann. Schüleraustauschmaßnahmen mit deutschen und deutschsprachigen Schulen sind selbstverständlich; zunehmend wird versucht, aus diesem Austausch projekt-orientierte Kooperation werden zu lassen. Die regelmäßige Begegnung mit deutschen Künstlern, Sportlern, Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist ebenfalls selbst-verständlicher Bestandteil des Schullebens. Deutschsprachige Theatergruppen oder Musikensembles gestalten das Schuljahr mit; Teilnahme an deutschsprachigen Wettbewerben wie Känguru der Mathematik, Jugend musiziert oder Jugend forscht geben den vorhandenen Talenten eine besondere Möglichkeit sich zusätzlich zu bewähren. Bereits seit einigen Jahren ist das Istanbul Lisesi die deutsche Schule, die beim Känguru der Mathematik den höchsten Anteil an Preisträgern von allen teilnehmenden deutschen Schulen im In- und Aus-land aufweist. Seit 2007 ist das Istanbul Lisesi die erste Auslandsschule, die die Kriterien der Mitgliedschaft für das von der deutschen Wirtschaft und Wissenschaft unterstützte Netzwerk mint-ec erfüllt und sich aktiv an den Programmen zur Gewinnung qualifizierten Nachwuch-ses für die MINT-Studienfächer beteiligt. Unter diesen Bedingungen hat in den vergangenen Jahren das Interesse am Studium in Deutschland zugenommen; und das, obgleich die finan-zielle Situation nicht allen Familien erlaubt, ein Auslandsstudium zu tragen und überdies die Visaformalitäten vor einer Einreise nach Deutschland auch bei hochqualifizierten jungen Nachwuchswissenschaftlern sehr abschreckend wirken.