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Radikalisierung durch Verschwörungserzählungen

„Der Weg zur Radikalisierung kann sehr kurz sein"

Viele außerschulische Träger bieten Schul-Workshops zum Thema Verschwörungsmythen an. Während einige stark auf Fake News setzen, nehmen andere stärker auch Rassismus, Antisemitismus und Radikalisierung in den Blick.

Jugendliche erleben die Welt oft als ungerecht, viele fühlen sich machtlos. Verschwörungsmythen bieten scheinbar einfache Auswege aus diesem Gefühl. (Foto: IMAGO/Westend61)

Wird Désirée Galert zur Frage Verschwörungsmythen in eine Schule gerufen, bittet sie die Schülerinnen und Schüler oft erst einmal um Antworten auf drei Fragen: Wie würdet ihr die Welt beschreiben, in der ihr lebt? Wie fühlt ihr euch, wenn ihr etwas nicht versteht? Wie informiert ihr euch? Was die Jugendlichen auf einem Flipchart notierten, ähnele sich unabhängig von Schulstandort und Klassenstufe auf fast verstörende Weise, so Galert: „Die Welt wird als ungerecht, kapitalistisch, von Kriegen bestimmt beschrieben. Wer etwas nicht versteht, fühlt sich dumm und minderwertig. Oft tut es geradezu weh zu lesen, wie präsent das Gefühl der Machtlosigkeit unter Jugendlichen ist“, berichtet die Leiterin der Praxisstelle in der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus KIgA e. V.

Auch die Frage nach den Informationsquellen wird fast immer gleich beantwortet, ganz oben auf der Liste: YouTube, hier sind zu jedem Thema fast ungefiltert beliebig viele Videos zu finden. „Damit sind die Jugendlichen sofort in einer Algorithmuslogik, in der die Solidität der Quellen keine Rolle spielt“, erklärt Galert, „und schon wird mit wenigen Klicks Tür und Tor zu allen möglichen Verschwörungsmythen geöffnet.“

„Im Grunde versuchen wir immer auch, das Gefühl zu wecken: Ihr könnt die Welt, die euch umgibt, selbst gestalten und prägen.“ (Désirée Galert)

Einen Workshop zu Verschwörungsideologien so basal zu beginnen, folgt einer einfachen Logik: Hätten Kinder und Jugendliche weniger das Gefühl, der Welt ausgeliefert zu sein, wäre so viel Schulungsbedarf gar nicht nötig. „Im Grunde versuchen wir immer auch, das Gefühl zu wecken: Ihr könnt die Welt, die euch umgibt, selbst gestalten und prägen“, sagt die KIgA-Mitarbeiterin. Ein weiteres Thema: Medienkompetenz. Was unterscheidet eine zuverlässige von einer unzuverlässigen Quelle? Wie dekonstruiert man Bilder? Wie erkennt man Überspitzung?

Fragt Galert die Schülerinnen und Schüler dann schließlich, welche Verschwörungserzählungen sie kennen, öffnet sich eine breite Palette: Oft erzählten schon 12- oder 13-Jährige von Illuminaten oder davon, dass die USA in der Wüste („Area 51“) Aliens ausbilden, oder auch von der angeblich gemeinsamen Wohngemeinschaft, in der Elvis Presley und Michael Jackson leben. Gelegentlich, aber das sei eher die Ausnahme, träfen sie auf Mythen, die in völkisch-naturalistischen Vorstellungen fußen. „Schülerinnen und Schüler haben in aller Regel noch nicht so gefestigte Weltbilder“, erklärt Galert, „in anderen Gruppen trifft man weit häufiger zum Beispiel auf klar antisemitische Erzählungen. Umso wichtiger ist es, frühzeitig Denkanstöße zu geben, bestimmte Bilder zu dechiffrieren.“

Verschwörungsideologen spielen

Der oft beeindruckendste Teil ist, wenn Kinder und Jugendliche selbst in Rollenspiele einsteigen, in denen eine kleinere Gruppe eine zuvor eingeübte Erzählung verficht. Etwa ab der 10. Klasse denken sich die Schülerinnen und Schüler in den Workshops der KIgA selbst eine Verschwörung aus; bis dahin bekommen sie eine vorgegeben – etwa die, dass die Autoindustrie gezielt dafür sorgt, dass Busse und Bahnen oft unpünktlich sind. Die größere Gruppe der Teilnehmenden entwirft zugleich eine Strategie, wie sie dagegen argumentiert: Woher hast du die Infos? Hast du Statistiken, Beweise?

Schnell stellt sich bei der Übung heraus, wie schwierig es ist, selbst die absurdesten Erzählungen zu entlarven: „Wenn jemand mit Überzeugung etwas vertritt, rhetorisch fit ist und seine Körperhaltung einzusetzen weiß, kommen die anderen kaum dagegen an“, beobachtet Galert in den Workshops. Umgekehrt seien jene, die die Verschwörungsideologen spielen, oft erschrocken, wie leicht sie sich in die Welt derer einfinden können, die an Verschwörungen glauben: „Egal, wie viele Widersprüche es gibt – es ist gar nicht schwierig, den Kreis der Erzählung immer wieder zu schließen. In einem geschützten Raum selbstreflexiv festzustellen, was das mit einem macht, ist ungeheuer wichtig.“

„Immer mehr Lehrkräfte sehen, wie wichtig es ist, früh mit den Aufklärungsworkshops anzufangen, um die Widerspruchstoleranz zu fördern.“

Meist finden die Workshops ab der 7. Klasse statt; die KIgA-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter werden aber seit einiger Zeit häufiger auch schon in 5. oder 6. Klassen eingeladen. „Immer mehr Lehrkräfte sehen, wie wichtig es ist, früh mit den Aufklärungsworkshops anzufangen, um die Widerspruchstoleranz zu fördern“, erzählt Galert.

Die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche wahrzunehmen und auszuhalten, ist ein Kernthema der KIgA, zu deren Schwerpunkten außer dem Antisemitismus auch der antimuslimische Rassismus gehört. Die Logik dahinter: Wer Widersprüche nicht aushält, setzt eher auf einfache Antworten, Abwertung und Gut-Böse-Schemata.

„Wir sehen als außerschulischer Träger mit großer Besorgnis, wie wenig Zeit und Raum es gibt, um mit Kindern und Jugendlichen in einen Austausch zu gehen.“

Ist die Förderung der Widerspruchs-, oft auch Ambiguitätstoleranz genannt, nicht eine Kernaufgabe der Schule? „Doch – und mein Eindruck ist, viele Lehrkräfte würden gern mehr machen“, erwidert Galert, „ihnen fehlt aber die Zeit dafür. Wir sehen als außerschulischer Träger mit großer Besorgnis, wie wenig Zeit und Raum es gibt, um mit Kindern und Jugendlichen in einen Austausch zu gehen.“ Zugleich bietet ein Projekttag Möglichkeiten, die eine Stundentafel nie hat: „In vier, fünf Stunden können wir wirklich Themen verknüpfen, Strategien entwickeln sowie mit Schülerinnen und Schülern auch über eigene Unsicherheiten, Diskriminierungen sprechen.“ Denn ein weiteres Ziel jedes Workshops ist, immer auch zu vermitteln: „Ausgrenzungsmechanismen betreffen uns alle. Jede und jeder kann zu ,den Anderen‘ gehören.“

Verschwörungsglauben und rechtes Weltbild

„Workshops zu Verschwörungsideologien sind ein gutes Vehikel, um Themen wie Rassismus oder Antifeminismus zu besprechen“, sagt Wiebke Eltze. Fast alle Jugendlichen seien fasziniert von Verschwörungsmythen; sie zu dekonstruieren sei für alle spannend: „Ob Schülerinnen und Schüler, Azubis oder Jugendliche, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren – ich stoße nahezu immer auf große Offenheit“, berichtet die Argumentationstrainerin und Referentin, die unter anderem mit der Amadeu-Antonio-Stiftung und dem Netzwerk Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage zusammenarbeitet. Damit bilde, so Eltze, die Arbeit zum Thema Verschwörungen auch eine gute Brücke, um einer Radikalisierung vorzubeugen – selbst wenn diese nicht akut drohe.

„Ob Außerirdische, Illuminaten oder Reptiloide: Fast alle Verschwörungserzählungen verbindet die Idee eines Geheimbunds – wer drin ist, gehört zu einem kleinen Kreis Erleuchteter“, sagt Eltze, die in den Workshops nicht nur bespricht, wie sich Gefühle der Zugehörigkeit womöglich anders herstellen lassen. Sie nimmt das Thema auch zum Anlass, die Einteilung in „Wir“ und „die Anderen“ zu erörtern – und damit die Konstruktion von „Anderen“-Gruppen, auf die sich alles Böse projizieren lässt. „Schon ist man mitten drin in der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, sagt sie, „und bei Prinzipien, derer sich auch QAnon* und die Reichsbürger bedienen.“

„Je stärker die Verschwörungsmentalität“, heißt es in der jüngsten Erhebung von 2021, „desto eher werden Zuwanderung und Globalisierung – und desto weniger der Klimawandel – als Bedrohung angesehen.“ (Mitte-Studie 2021)

Dazu passt, dass auch das Autorenteam der sogenannten Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung eine „Überlappung von Verschwörungsglauben und rechtem Weltbild“ konstatiert. „Je stärker die Verschwörungsmentalität“, heißt es in der jüngsten Erhebung von 2021, „desto eher werden Zuwanderung und Globalisierung – und desto weniger der Klimawandel – als Bedrohung angesehen.“ Jüngeren Menschen stellen die Sozialforscher in der Frage der Verbreitung von Mythen indes ein besseres Zeugnis aus als älteren: Während in der Gruppe der 16- bis 30-Jährigen rund jeder Siebte an Verschwörungen glaubt (14,4 Prozent), ist es unter den 31- bis 60-Jährigen mehr als jeder Vierte (26,6 Prozent). Beunruhigend: Fast 14 Prozent der Menschen mit Verschwörungsmentalität billigen die Anwendung von Gewalt, um politische und soziale Ziele zu erreichen; bei Menschen ohne den Hang zu diesen Narrativen sind es nur etwas mehr als 4 Prozent.

Eltze sagt, auch in ihren Workshops gelte es grundsätzlich, den Ernst der Lage im Blick zu behalten. „Ein bisschen droht stets die Gefahr, dass es zu lustig wird – nach dem Motto ,Haha, Reptiloide, wer glaubt denn an sowas‘.“ Ihr ist wichtig, klarzumachen: „Der Weg von einer Verschwörungsideologie zur Radikalisierung kann sehr kurz sein.“ Als eins von vielen Beispielen nennt sie den Attentäter von Hanau, der im Februar 2020 zehn Menschen erschoss. „Sein rechtsextremes Weltbild war maßgeblich von der Vorstellung geheimer Mächte, gepaart mit rassistischen Vernichtungsphantasien geprägt“, erklärt Eltze. Sie mahnt: „Man muss sehr ernst nehmen, wohin dieses Denken führen kann, und was Menschen diesem an Taten folgen lassen.“ 

*QAnon nennt sich eine 2017 in den USA entstandene Gruppierung mit rechtsextremem Hintergrund. Die Anhängerinnen und Anhänger vertreten die Auffassung, dass eine weltweit agierende satanistische Elite existiert, die Kinder entführt, sie gefangen hält, foltert und sie ermordet, um aus ihrem Blut ein Verjüngungsserum zu gewinnen.