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Sportunterricht - was muss sich ändern?

Der überflüssige Kampf um Zentimeter

Wenn es um Noten im Sportunterricht geht, scheiden sich die Geister. Viele halten sie für unangebracht. Doch es gibt auch Stimmen, die das anders sehen. Vorausgesetzt, es geht nicht nur um Zentimeter und Sekunden.

Cartoon: Freimut Woessner

Professor Nils Neuber ist das, was man wohl einen „alten Hasen“ nennt. Nicht, was seine 56 Lebensjahre angeht. Vielmehr aber, was seine Erfahrung rund um den Sportunterricht in deutschen Landen anbetrifft. Er arbeitet als Leiter des Arbeitsbereichs Bildung und Unterricht im Sport und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sportwissenschaft (IfS) der Universität Münster. Zu seinen Schwerpunkten zählen die Bildungs- und Unterrichtsforschung, individuelle Förderung und Aufgabenkultur, Ganztagsbildung und Bildungsnetzwerke sowie die Kompetenzentwicklung von Sportlehrkräften und Weiterbildung – alles mit Blick auf den Sport.

Rückmeldung zum individuellen Fortschritt

Die Debatte über das Für und Wider der Noten im Sportunterricht bringt ihn nicht aus der Ruhe: „So etwas kommt in Wellen immer wieder.“ Einen Sinn in der aktuellen Diskussion sieht er darin, sich bewusst zu werden, was Sportunterricht leisten kann – die Freude an Bewegung aufrecht zu erhalten. Wohlgemerkt, aufrecht zu halten, nicht zu wecken. „Denn jedes Kind ist von Natur aus erst einmal bewegungsfreudig“, sagt Neuber. Darüber hinaus gelte es, die Gesundheit und das soziale Gefüge zu stärken sowie die gesamte Entwicklung eines jungen Menschen durch Sport zu fördern.

Tragen Noten dazu bei, diese naturgegebene Freude zu zerstören? „Nein“, versichert Neuber, „es ist die Art des Unterrichts, die Schülerinnen und Schülern die Lust verdirbt. Nicht irgendein vermeintlicher Leistungsdruck.“ Es sei nicht ausgeschlossen, dass in manchen Turnhallen entgegen der Vorgaben in den Curricula nach wie vor die Devise herrsche: höher, schneller, weiter. Das sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass die meisten Sportlehrkräfte selbst aus dem Leistungssport kämen. „Doch dann ist es unsere Aufgabe, in der Ausbildung darauf hinzuwirken, dass Sportunterricht andere Funktionen übernimmt als nur herausragende Werte notieren zu können. Die Lehrkräfte müssen den Unterricht entsprechend konzipieren“, glaubt er.

„Warum soll jemand, der in Mathe gut ist, dafür eine gute Note feiern, derjenige aber, der besonders sportlich ist, darauf verzichten müssen?“ (Nils Neuber)

In Münster sensibilisieren sie die angehenden Lehrkräfte dafür, nicht nur auf Leistung zu schauen. Dazu erhalten diese im Didaktik-Seminar einen Text zu dem Thema und sollen ihre Erkenntnisse in ein praktisches Angebot für die Sportstunde einfließen lassen. „Dabei wird ihnen bewusst, dass unsere Gesellschaft und Kultur stark vom Leistungsgedanken geprägt werden. Doch sie erkennen auch, wie unterschiedlich man mit den Leistungsvergleichen umgehen kann.“ Es sei besser, die individuelle Leistungssteigerung zu bewerten. Dass bedeute etwa, dass derjenige, der am weitesten springe, nicht automatisch die beste Note erhalte. Neuber plädiert dafür, stärker als bisher beispielsweise Ergebnisse einer Gruppe, in die alle ihre ureigenen Stärken einbringen können, zu beurteilen.

„Leistung und Noten haben ihre Berechtigung“, legt sich Neuber fest. Doch diese solle erstens die individuelle Steigerung, zweitens den pädagogischen Aspekt, sich in der Gruppe einzubringen, sowie drittens den kognitiven Anteil (etwa eine Darstellung über Aufwärmübungen) berücksichtigen. „Außerdem“, so fragt er, „warum soll jemand, der in Mathe gut ist, dafür eine gute Note feiern, derjenige aber, der besonders sportlich ist, darauf verzichten müssen?“

Körperliche Diversität und ihre Folgen

Seinem letzten Argument widerspricht Pauline Weber, eine 19-jährige Schülerin aus Sachsen. Sie ist überzeugt: „Allein schon die körperlichen Unterschiede machen eine faire Benotung unmöglich.“ Wichtig ist ihr: „Bei manchen Übungen geht es auch darum, ob ich Angst habe und wie stark ich dabei beispielsweise auf die Hilfestellung der Lehrkraft oder Mitschülerinnen und Mitschüler vertraue, mich darauf einlasse. Das aber kann und darf nicht in eine Note einfließen.“

Die körperliche Diversität hebt auch die Sportdidaktikerin Prof. Julia Hapke (Uni Tübingen) hervor. Sie betont, dass neben der Diversität die Vorerfahrungen, die Schülerinnen und Schüler beispielsweise durch Aktivitäten im Sportverein mitbringen, eine bedeutsame Rolle spielten. Sie teilt die Auffassung Neubers, dass eine Rückmeldung wichtig sei. In die Leistungsbewertung im Sportunterricht sollten verschiedene Kriterien einfließen – jeweils abhängig von den angestrebten Lernzielen. Diese Kriterien müssten nicht automatisch die gleichen sein wie die, die im außerschulischen Sport angelegt werden. Im Gespräch mit dem Deutschen Schulportal nennt sie beispielsweise auch die Kreativität.

„Die Kinder müssen heile bleiben, sonst bewegen sie sich auch später nicht.“ (Ole Stratmann)

Nach Auffassung von Ole Stratmann allerdings „braucht es keine Noten“. Der Vorsitzende der Sportkommission der GEW auf Bundesebene ist überzeugt: „Die Starken macht ein ,sehr gut‘ nicht stärker. Kinder ohne Affinität zum Sport laufen durch die Note auch nicht schneller. Für sie entsteht nur zusätzlicher Druck.“

Die Problematik des Sportunterrichts sieht auch er in mitunter fehlenden Konzepten, die die Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen. Als Sportlehrer fordert er solche, um Beschämungen zu vermeiden: „Die Kinder müssen heile bleiben, sonst bewegen sie sich auch später nicht.“ Mit pädagogischer Fachlichkeit könne man das bewirken.

„Das Standing des Faches könnte ohne Noten sinken.“  (Kai Veenhuis)

Einer, der diese mitbringt, ist Kai Veenhuis. Seit fünf Jahren unterrichtet er am Evangelischen Gymnasium Nordhorn (Niedersachsen). Er weiß sich mit vielen Fachkolleginnen und -kollegen einig: „Wir brauchen keine Noten.“ Veenhuis weiß aber auch, dass Eltern sowie viele Schülerinnen und Schüler geradezu nach Zifferbeurteilungen „lechzen“. Darum sei es wichtig, „einen schönen Weg der Rückmeldung, beispielsweise durch Aussagen zur Kompetenzentwicklung“ zu finden.Aber er warnt: „Das Standing des Faches könnte ohne Noten sinken.“