Situation von Gewerkschaften weltweit
Der Tag, an dem sich alles änderte
Im Iran gehören Lehrkräfte zu den aktivsten Gruppen im Kampf für Demokratie, Frauenrechte und gute Arbeit. Rund 20 Gewerkschaften sind im Dachverband CCITTA organisiert. Viele Lehrkräfte werden für ihr Engagement hart bestraft.
Wer Familie Ahmadi (Name geändert) besucht, unternimmt eine Reise durch Norddeutschland: Von Bremen geht es über Delmenhorst und Oldenburg nach Ostfriesland. In einer Gemeinde lebt das iranische Ehepaar in einem kleinen Haus – ein krasser Gegensatz zu der Großstadt im Iran, aus der beide kommen. Ein Volksfest, das heute stattfindet, vergrößert den Kontrast noch. Blasmusikkapellen und bunte Festwagen ziehen vorbei; Kinder tanzen vor Freude auf der Straße. Das ganze Dorf ist auf den Beinen.
Ali Ahmadi kann all der Trubel nichts anhaben. Kerzengerade sitzt der Lehrer aus dem kurdischen Teil des Irans auf einem Stuhl. Die Sessel hat er den Gästen überlassen, unter ihnen ein Übersetzer, den ein Bekannter von ihm mitgebracht hat. Dieser hat den Iran schon vor Jahren verlassen. Was er heute hören muss, wirft ihn weit zurück in seine eigene Geschichte. Mehrfach gerät er ins Stocken. Einmal verlässt er seine Übersetzerrolle und sagt: „Ich habe Gänsehaut.“
Ahmadi und seine Frau Maryam verließen den Iran nicht freiwillig. An einem 1. Mai vor einigen Jahren hatte er mit der lokalen Lehrkräftegewerkschaft zu einer Demonstration aufgerufen. Nicht klandestin, wie sonst oft, sondern mutig und offensiv zogen sie vor ein Gebäude der Regierung: „Mit 3.000 Menschen“, erzählt er, „Sicherheitskräfte waren fast ebenso viele da.“ Gleich acht von ihnen, so erinnert Ahmadi sich, hätten ihn in einen Laden verschleppt, ihm eine Pistole an den Kopf gehalten und den Staatsanwalt angerufen. Ihm sei ins Ohr gerufen worden, er solle aufhören zu demonstrieren, man könne ihn auch erschießen.
Hilfe von Education International und GEW
An diesem Tag ließen sie Ahmadi wieder frei. Doch einige Wochen später wurde er erneut festgenommen. Im Gefängnis habe er ganze Tage und Nächte auf einem Holzstuhl verbringen müssen, ohne einschlafen zu dürfen – eine bekannte Art der Folter. Schließlich wurde er in das berüchtigte Gefängnis Evin in Teheran gebracht und nach Zahlung einer hohen Kaution und auf internationalen Druck hin entlassen. Doch die Bedrohung nahm kein Ende. „Es gab Psychoterroranrufe, unangemeldete Besuche, Überwachung. Wir trauten uns kaum aus dem Haus“, erzählt seine Ehefrau. Auf dem Landweg flüchteten sie im Winter aus dem Iran. Im Kontakt mit dem Auswärtigen Amt konnte eine Lösung für die Familie gefunden werden.
Education International, die GEW und der Heinrich-Rodenstein-Fonds haben die Familie in diesem Prozess unterstützt. „Das politische Engagement für verfolgte Lehrkräfte, die wie im Iran mutig für die Rechte der Beschäftigten und der Gewerkschaften eintreten und dabei ein hohes persönliches Risiko eingehen, bleibt wichtig. Wir sind froh, dass unsere Kolleg*innen in Sicherheit sind und wir in einzelnen Fällen auch praktische Hilfe leisten können“, so die GEW-Vorsitzende Maike Finnern, die ebenfalls Mitglied im EI-Vorstand ist.
GEW und EI machen sich seit Jahren für die Rechte der Gewerkschaften im Iran stark. Kurz vor Ahmadis Freilassung hatte Finnern in einem Brief auf die „legitimen Forderungen“ iranischer Lehrkräfte nach „akzeptablen Arbeitsbedingungen sowie der Anerkennung ihrer fundamentalen Rechte und Freiheiten als Arbeitnehmer und Bürgerinnen und Bürger“ hingewiesen. Im Oktober 2023 prangerte eine EI-Delegation zusammen mit anderen Organisationen die Inhaftierung und Folter von Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf an.
„Internationale Solidarität und Appelle an das iranische Regime sind immens nützlich. Organisationen wie die GEW und EI lenken damit weltweite Aufmerksamkeit auf die Notlage der iranischen Lehrkräfte und andere Aktive." (Shiva Amelirad)
Shiva Amelirad, die in Kanada lebt, ist die internationale Vertreterin des Koordinierungsrats der iranischen Lehrerverbände (Coordinating Council of Iranian Teachers Trade Associations, CCITTA). Sie sagt: „Internationale Solidarität und Appelle an das iranische Regime sind immens nützlich. Organisationen wie die GEW und EI lenken damit weltweite Aufmerksamkeit auf die Notlage der iranischen Lehrkräfte und andere Aktive. Der so entstehende Druck auf die iranische Regierung kann zu greifbaren Ergebnissen führen – etwa zur Freilassung inhaftierter Aktivistinnen und Aktivisten oder zu besseren Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte.“
Laut eines Berichts der Nichtregierungsorganisation (NGO) Volunteer Activists wurden allein zwischen Mai 2022 und September 2023 insgesamt 220 Lehrkräfte zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Einige kamen nach Stunden, Tagen oder Wochen frei, andere warteten Monate auf ein Urteil – oder sind Jahre in Haft. Der Vorsitzende der Teheraner Lehrervereinigung und einstige CCITTA-Generalsekretär Esmail Abdi wurde bereits 2015 verhaftet – ausgerechnet, als er versuchte, ein Visum für den 7. Weltkongress der EI in Ottawa, der Hauptstadt Kanadas, zu bekommen. Bis Ende 2023 hielt das Regime ihn im Evin-Gefängnis fest; nur gegen Zahlung einer hohen Kaution kam er frei.
„Wir sind deswegen so schlagkräftig, weil die Solidarität so groß ist.“ (Ali Ahmadi)
Die NGO Volunteer Activists, die sich von den Niederlanden aus für die Zivilgesellschaft im Iran einsetzt, veröffentlichte 2023 einen mehr als 30-seitigen Bericht über die „Auswirkungen staatlicher Gewalt auf die iranische Lehrkräftebewegung“. Der Titel: „Our voice will not be silenced“ (Unsere Stimme wird nicht zum Schweigen gebracht). Das Papier attestiert den Lehrkräften, zu den am besten organisierten Berufsgruppen und den dynamischsten sozialen Bewegungen im Iran zu zählen.
Möglich ist das wegen einer starken Verankerung in den Regionen des Landes. Vor Ort sind die Pädagoginnen und Pädagogen in mehr als 20 Lehrkräftegewerkschaften organisiert. Diese entsenden Vertreterinnen und Vertreter in den Koordinierungsrat CCITTA, der auch Mitglied der EI ist. Ahmadi zum Beispiel vertrat den örtlichen Lehrkräftegewerkschaftsverband im CCITTA. Zugleich ist der CCITTA gut mit anderen Berufsgruppen vernetzt. „Wir sind deswegen so schlagkräftig, weil die Solidarität so groß ist“, erklärt Ahmadi.
Diskriminierung von Kurdinnen und Kurden
Woher angesichts der steten Bedrohung die Kraft für gewerkschaftliches Engagement kommt, kann wohl nur jede und jeder Aktive für sich beantworten. Ahmadi erlebte von klein auf, wie Kurdinnen und Kurden, die etwa ein Zehntel der Bevölkerung im Iran stellen, diskriminiert werden: „Die Kinder haben weitere Schulwege und werden von weniger Personal unterrichtet. Damit starten sie mit eklatant weniger Chancen ins Leben“, erzählt er. Um daran etwas zu ändern, beschloss er, Lehrer zu werden. 30 Jahre unterrichtete er kurdische Kinder und Jugendliche, 20 davon bis zur 7. Klasse und in allen Fächern.
Einer Gewerkschaft beizutreten, schien ihm schon bald ganz selbstverständlich, erinnert er sich: „In den Grenzregionen, wo die meisten Minderheiten im Iran leben, arbeiten auch die Lehrkräfte unter weit schlechteren Bedingungen und für weniger Geld als in anderen Teilen des Landes. Viele leben in Armut.“ Zugleich konstatiert er, dass sich in den abgelegenen Regionen besonders deutlich zeige, worunter iranische Schulen – und damit der Nachwuchs – im ganzen Land zu leiden hätten: schlechtes Bildungsmanagement, unzureichende Schulmaterialien, eine Segregation nach sozialer Herkunft, weil Bessergestellte ihre Kinder in Privatschulen geben.
Arbeit gegen die Unterdrückung von Frauen im Zentrum
Seit 2022 wurde das Engagement der Lehrkräfte in der Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ auch weltweit sichtbar. Als die 22-jährige Mahsa Amini – mutmaßlich unter Gewalteinwirkung – in Polizeigewahrsam starb, weil sie ohne das für Frauen obligatorische Kopftuch auf der Straße war, rief auch der CCITTA die Mitglieder zu Sit-ins und Demonstrationen auf. Die Website IranWire, die iranische Journalistinnen und Journalisten betreiben, berichtet von mindestens fünf – teils pensionierten – Lehrkräften, die bei den landesweiten Demonstrationen ihr Leben lassen mussten.
Ahmadi erzählt, die Arbeit gegen die Unterdrückung der Frauen stehe seit langem im Zentrum gewerkschaftlichen Engagements. Die Lehrkräftegewerkschaften würden deshalb bei Aktivitäten oft gezielt Rednerinnen nach vorne stellen. Allerdings darf man sich diese Aktionen nicht als große Demonstrationen vorstellen. Üblich ist eher, in verschlüsselter Chat-Kommunikation Veranstaltungen mit Flashmob-Charakter zu planen. Ahmadi: „Typisch ist zum Beispiel, zwei Tage vor dem Internationalen Frauentag am 8. März zu beschließen: ,Kommt, wir treffen uns, um über die Rechte der Frauen zu sprechen.‘ Dann tauchen wir auf, bleiben 40 Minuten – und wenn die Revolutionsgarden kommen, sind wir schon wieder weg.“ Welche Vorteile so ein Vorgehen im Iran hat, zeigt nicht zuletzt der Tag, an dem Ahmadi festgenommen wurde. Und der sein Leben für immer veränderte.