Ganztag
Der Druck muss aufrechterhalten werden
E&W hat bei Mark Rackles (SPD), Staatssekretär a. D. und Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, nachgefragt, wie das Ziel eines professionellen und gut ausgestatteten Ganztages erreicht werden könne.
- E&W: Herr Rackles, sind Sie angesichts der Mammutaufgabe, den Ganztag in den Grundschulen zu organisieren, froh, nicht mehr in Ihrem früheren Job als Staatssekretär für Bildung im Berliner Senat zu arbeiten?
Mark Rackles: Nö. In der Anfangszeit der Corona-Pandemie wäre ich ungern in der Verantwortung gewesen, aber die Gestaltung des Ganztags sehe ich als positive Herausforderung. Der Rechtsanspruch bietet eine Riesenchance, das Projekt jetzt umzusetzen.
- E&W: Bei der GEW-Fachtagung haben Sie über „Wunsch und Wirklichkeit deutscher Bildungspolitik“ gesprochen. Wo sehen Sie die größten Knackpunkte?
Rackles: Generell ist das Bildungssystem extrem schwerfällig. Der Ganztag ist da nur ein Beispiel. Für die Umsetzung braucht es Gebäude, Personal, Finanzierung und einen Rechtsrahmen, und dafür sind jeweils andere Akteure zuständig. Dazu kommt die Kultusministerkonferenz (KMK) als länderübergreifende Institution.
- E&W: In einem Aufsatz von 2013 nennen Sie drei Faktoren, die wichtig sind, wenn der Ganztag in einer Schule gelingen soll: Zeit, geeignete Räumlichkeiten und die Öffnung der Schule nach außen. Sehen Sie, knapp zehn Jahre später, dass Schulen und Kommunen auf diesem Weg sind?
Rackles: Für Berlin kann ich sagen, dass wir mit Rechtsrahmen und Ausgestaltung relativ weit sind, aber immer noch verbergen sich unter den Labeln offener oder gebundener Ganztag sehr unterschiedliche Modelle. Die größte Baustelle ist der Fachkräftemangel. Wenn Leute fehlen, werden Erzieherinnen und Erzieher zum Ersatz für Lehrkräfte.
- E&W: Neuere Berechnungen sagen, dass bis zum Schuljahr 2029/30 bundesweit mindestens 600.000 zusätzliche Ganztagsplätze entstehen müssen, um den Bedarf zu decken. In den Städten dürfte allein die Suche nach geeigneten Räumen schwierig sein. Was raten Sie?
Rackles: Ob es bis 2029 lösbar ist, weiß ich nicht, aber der Rechtsanspruch erzeugt Druck auf die Länder. Diese sind sehr unterschiedlich weit in der Umsetzung. Das dominante Problem ist der Fachkräftemangel, dann geht es um Ausbau und Sanierung der Gebäude. Realistisch glaube ich nicht, dass alles bis 2029 zu erfüllen ist, aber man darf deshalb den Anspruch nicht aufgeben.
- E&W: Personal fehlt überall. Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, warnte während der GEW-Fachtagung vor einer Konkurrenz um Fachkräfte zwischen Grundschulen und Kitas. Hinzu kommt die Konkurrenz zwischen den Ländern. Gibt es eine Lösung?
Rackles: Wenn die Decke überall dünn ist, reißt sie irgendwann. Der Hebel ist die Ausbildung: Die Mehrzahl der Länder bildet nicht einmal für den Eigenbedarf aus. Alle Länder sollten aber mindestens für den Eigenbedarf ausbilden, und große noch darüber hinaus. Das ist eines der Defizite in der Arbeit der KMK: Es fehlt eine gemeinsame Strategie, das wäre Thema für einen Staatsvertrag.
- E&W: Für den Aufbau des Ganztags sind verschiedene Akteure gefragt: Bund, Länder, Kommunen, Schulleitungen. Alle befürworten Ganztag, schielen aber jeweils auf die anderen Beteiligten. Was wäre der erste Schritt, um diese Blockade aufzulösen?
Rackles: Der erste notwendige Schritt liegt leider bereits hinter uns: Man hätte gleich Standards festsetzen müssen, was Personalschlüssel und Qualifikation angeht, auch Kriterien für die Ausstattung und Größe der Räume sind nicht definiert. Immerhin gibt es ein neues Referat Ganztag im Bundesministerium. Aber solche Runden wie hier von der GEW in Göttingen sind dazu da, an Standards zu arbeiten und politisch zu fordern. Angesichts des bundesweiten Flickenteppichs spielen GEW und Öffentlichkeit eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung eines qualitativ guten Ganztags.
- E&W: Mit welcher Forderung lassen sich Politik oder die KMK zurzeit besonders nerven?
Rackles: Ich würde die Evaluation, die die KMK mit Blick auf ihre Arbeit in 2023 plant, nutzen und lautstark Ergebnisse fordern. Hinzu kommt, dass es unter der Präsidentschaft Berlins speziell um die Qualität im Ganztag gehen soll. 2023 ist ein gutes Jahr, um laut und konstruktiv zu sein.