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Studie LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität

Der Albtraum mit den Buchstaben

In Deutschland können 6,2 Millionen Menschen nicht ausreichend lesen und schreiben. Doch nicht einmal ein Prozent der Betroffenen findet den Weg in Alphabetisierungskurse bei Volkshochschulen und anderen Trägern.

Stefan Reinhard fällt das Lesen und Schreiben nach wie vor schwer. Foto: Babette Brandenburg

Stefan Reinhard (Name von der Redaktion geändert) überfliegt den Auftragszettel, seine Augen suchen nach den Maßen für die Schraubenmuttern. Dann tippt der 34-jährige Zerspanungstechniker die Zahlen auf den Touch-Monitor der Drehmaschine. Er müsse die Dokumente „schon ordentlich durchlesen“, erzählt er, „sonst mache ich einen Fehler und lege den falschen Wert an.“ Das, was für andere selbstverständlich ist, erfordert von Reinhard ein hohes Maß an Konzentration und ist das Ergebnis jahrelanger Weiterbildung – neben Ausbildung und Berufstätigkeit. Denn als er vor 16 Jahren die Schule verließ, tat er sich schwer mit dem Lesen und Schreiben.

Laut einer aktuellen Studie der Universität Hamburg haben in Deutschland rund 6,2 Millionen Menschen Probleme, selbst einfache Wörter fehlerfrei aufzuschreiben. Auch das Lesen und Verstehen kurzer Texte fällt ihnen schwer. Sie könnten lediglich einzelne Sätze schreiben und lesen, so Pädagogik-Professorin Anke Grotlüschen, Leiterin der Studie LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. 12,1 Prozent der Deutsch sprechenden Erwachsenen – nur sie haben an der Studie teilgenommen – sind demnach „gering literalisiert“.

„Ich habe von meinem Problem erzählt und bekam von meinem Vorgesetzten viel Unterstützung.“

Rund 20 Prozent der Betroffenen sind zwischen 18 und 35 Jahre alt. Die meisten haben wie Reinhard einen Schulabschluss. Seine Leistungen waren in den meisten Fächern „in Ordnung“. Anders im Deutschunterricht: Vor dem Diktat hatte er „Schweißausbrüche“, „die Sechs war sicher“. In seinem Zeugnis stand jedoch wegen guter mündlicher Beteiligung stets ein „Ausreichend“. Erst nach der Schule wurde Reinhard die Tragweite seines Handicaps bewusst: Er verlor zwei Ausbildungsplätze zum Anlagenmechaniker für Sanitärtechnik. „Die Kunden konnten meine Berichte nicht lesen“, erinnert er sich. Er war verzweifelt.

Als sein Vater aus der Zeitung erfuhr, dass die Volkshochschule (VHS) für Menschen wie ihn Lese- und Schreibkurse anbietet, schöpfte Reinhard neuen Mut: Er begann, wieder zu lernen, und fand eine überbetriebliche Ausbildung zum Zerspanungstechniker. Dieses Mal „legte ich die Karten auf den Tisch“, sagt er. „Ich habe von meinem Problem erzählt und bekam von meinem Vorgesetzten viel Unterstützung.“ Er fühlte sich befreit, musste sich nicht länger verstecken – und schaffte seine Ausbildung.

„Viele kommen auf Anraten der Jobcenter zu uns oder schlicht aus Angst, ihren Job zu verlieren, wenn die Anforderungen durch Umstrukturierung oder Digitalisierung steigen.“ (Susanne Kiendl)

Nicht einmal 1 Prozent der Betroffenen findet den Weg in Alphabetisierungskurse bei Volkshochschulen und anderen Trägern, berichtet Susanne Kiendl vom Grundbildungszentrum der Hamburger VHS. In ihre Lernberatung kommen viele Mittdreißiger. Nach der Schule haben sie zunächst versucht, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen, „bis sie merkten, dass fehlende Lese- und Schreibkenntnisse selbst in angelernten Berufen zum Hindernis werden“, erzählt die Pädagogin. „Viele kommen auf Anraten der Jobcenter zu uns oder schlicht aus Angst, ihren Job zu verlieren, wenn die Anforderungen durch Umstrukturierung oder Digitalisierung steigen.“

Immerhin 62,3 Prozent der gering literalisierten Erwachsenen sind laut LEO-Studie erwerbstätig. Die meisten als Hilfskräfte auf dem Bau, in Fertigung und Pflege, in der Reinigungs- und Transportbranche. Für sie ist das Ausfüllen von Formularen oder das Lesen von Lieferscheinen, Arbeitsanweisungen und Warnhinweisen ein ständig wiederkehrender Albtraum. Auch im Hamburger Pflegeunternehmen „PFLEGEN & WOHNEN“ gebe es Beschäftigte, die sich schwertun, Texte mit komplexerem Satzbau zu verstehen, berichtet Qualitätsmanagerin Susanne Schneider. Textverständnis sei jedoch essenziell, müssten doch die Mitarbeitenden die Expertenstandards in der Pflege umsetzen können. Im Bereich der Dokumentation komme es „zu Schwierigkeiten oder Verzögerungen beim Erstellen von Berichten und Protokollen“. „Diese Menschen wollen wir gezielt am Arbeitsplatz erreichen“, sagt Canan Yildirim von Arbeit und Leben Hamburg. Dafür werden im Rahmen des „MENTO“-Projekts Beschäftigte aus norddeutschen Betrieben zu Mentoren ausgebildet. Sie sprechen in Unternehmen wie „PFLEGEN & WOHNEN“ ihre Kollegen mit geringer Lese- und Schreibkompetenz an und ermutigen sie zur Teilnahme an Weiterbildungen der VHS.

Einsatz digitaler Lernformen

Da laut LEO-Studie gering literalisierte Erwachsene mit 28 Prozent seltener an Weiterbildungen teilnehmen als der Rest der Bevölkerung mit knapp 50 Prozent, sind neue Konzepte und Zugänge gefragt. So organisiert Sabine Raab vom Projekt BasisKomPlus bei Arbeit und Leben Schulungen in Betrieben aus Branchen mit vielen An- und Ungelernten. Dabei gehe es nicht „explizit um Lesen und Schreiben“, so Raab, sondern „um einzelne, branchenspezifische Tätigkeiten, bei denen gering literalisierte Beschäftigte Probleme haben, zum Beispiel beim Erstellen von Pflegeberichten, Essensplänen oder Dokumentationen“. In den Schulungen üben sie, zentrale Formulierungen zu lesen und zu schreiben. Zusätzlich erhalten sie Lernberatung und bei Bedarf Einzelcoaching. „Wir wollen die Lernmotivation wecken“, erzählt Raab, „und vermitteln an VHS-Kurse.“

Auch Pädagogik-Professorin Grotlüschen empfiehlt, die gängigen Weiterbildungsansätze zu überdenken und die Betroffenen „bei den Bildungsveranstaltungen abzuholen, die sie ohnehin besuchen“. Das könnten verpflichtende Weiterbildungen und Auffrischungen wie der Gabelstaplerschein sein. Darüber hinaus hält sie Angebote für ratsam zu Themen, bei denen die geringe Literalität bekanntermaßen Probleme bereitet wie Online-Banking, die Steuererklärung oder Altersvorsorge. Weitergehende Fragen der Alphabetisierung könnten hier eingebunden werden. Raab plädiert für den Einsatz von digitalen Lernformen und Apps, um insbesondere die Jüngeren zum Lernen zu motivieren.

Reinhard setzt dagegen auf die bewährten Methoden – Lesen und Schreiben im VHS-Kurs und Übungen zu Hause mit seiner Schwester. Um „dranzubleiben und nicht in das alte Muster zurückzufallen“, sagt er. Denn: „Meine Rechtschreibschwäche wird mich mein Leben lang begleiten.“