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Medienkompetenz

Den kritischen Blick schulen

Digitale Medien sind im Alltag der Kinder und Jugendlichen omnipräsent. In Medienkompetenzzentren sollen die jungen Menschen den kritischen Umgang mit ihnen lernen. Ein Besuch im Berliner Meredo.

In dem Ferienprojekt „Medienmacherinnen Traumwelten“ kreieren Mädchen zwischen zehn und 14 Jahren im Medienkompetenzzentrum Meredo ihre Traumwelten mit Hilfe einer Virtual Reality-Brille. (Foto: Rolf Schulten)

Sechs Zehntklässler, sechs Tablets und ein Rätsel. Wer findet den Weg? Es ist ruhig wie in einem Museum. Hie und da ein Fluchen, ein Seufzer, ein Bööp aus dem Tablet: Fehler. Luca, Leon, Sami, Efe, Sebastian und Yahya haben die Umschläge mit den Hinweisen aufgerissen. Decodierungsscheiben, Puzzleteile, eine Karte mit QR-Code, ein Personalausweis. Was verbirgt sich in diesem Netz? Wem bin ich hier auf der Spur? „Ich bin durch!“, ruft Lucas. Rätsel gelöst – es war ein Whistleblower im Darknet. Er hat mit internen Infos ein Unternehmen auffliegen lassen, das mit kaputten, gefährlichen Akkus Geschäfte macht.

„Denn gerade wenn Jugendliche auf die dunklen Seiten im Netz stoßen, sollten sie die Phänomene einordnen und kritisch beurteilen können.“ (Caroline Rössler)

Projekttag im Medienkompetenzzentrum Meredo, Berlin Reinickendorf. Die 10b der Albrecht-Haushofer-Gesamtschule ist zu Gast. Thema: „Die dunklen Seiten im Netz“. In Kleingruppen beschäftigen sich die Jugendlichen mit Sexualität im Internet, Fake Fotos und dem Darknet. „In diesem Workshop greifen wir Themen auf, die sonst weniger Gegenstand der Medienpädagogik sind“, erläutert Caroline Rössler, Erziehungswissenschaftlerin des Meredo-Teams. „Denn gerade wenn Jugendliche auf die dunklen Seiten im Netz stoßen, sollten sie die Phänomene einordnen und kritisch beurteilen können.“

Was ist das Darknet?

Geht es im Darknet etwa wirklich nur um Drogendeals, Pornohandel, Waffenkauf? „War von euch schon mal jemand drin?“, fragt Rösslers Kollegin Lisa Elm. Zögerlich geht ein Finger hoch, ein Schüler hat mal einem Freund beim Surfen über die Schulter geschaut. Genaues weiß er nicht. „Was also ist das Darknet?“, fragt Elm. „Warum gibt es das und was findet man da?“ „Illegale Waren“, glaubt Sebastian. „Das haben die Russen erfunden“, vermutet Leon.

Workshopleiterin Elm schüttelt den Kopf. Und erzählt von den USA, die sichere Wege im Internet für ihre Geheimdienste schaffen wollten. Sie berichtet von der Entwicklung des T.O.R.-Browsers (The Onion Router) Anfang der 2000er-Jahre, aufgebaut wie eine Zwiebel als Knotennetzwerk ohne zentralen Server. Und von einem verschlungenen Space, der nicht nur Plattform für illegale Deals ist, sondern vor allem anonymer Schutzraum für politisch Verfolgte und unabhängige Presse in Ländern mit autoritären Regimen oder Zuflucht für Whistleblower. Die Jugendlichen sind jetzt voll dabei. Haken nach, wollen mehr wissen. Zum Abschluss geht es an das Rätselspiel, das das Meredo-Team auf der Plattform Actionbound entwickelt hat.

Praktisch anwenden, was vorher diskutiert wurde. Elm: „Das schärft den Blick für die Facetten. Wo läuft die Linie zwischen schwarz und weiß?“

Bilder zu manipulieren, ist im digitalen Zeitalter sehr einfach. Ein Druck auf den Auslöser der Tablet-Kamera – fertig ist die Pose vorm Green Screen, die nachher in ein Bild aus dem Internet eingebaut wird. (Foto: Rolf Schulten)

Intensive Nutzung

Digitale Medien sind im Alltag der Kinder und Jugendlichen längst omnipräsent. Laut einer repräsentativen Studie vom Juni 2022 im Auftrag des Digitalverbandes Bitkom nutzen 98 Prozent der Sechs- bis 18-Jährigen ein Smartphone oder Tablet. Schon die Sechs- bis Neunjährigen sind pro Tag durchschnittlich 49 Minuten im Internet unterwegs, die 13- bis 15-Jährigen fast 2,5 Stunden. Am liebsten gehen Kinder und Jugendliche zum Chatten und Video streamen ins Netz.

Doch die intensive Nutzung sagt wenig über die Medienkompetenz der jungen Leute aus. Beispiel Nachrichten: Viele verlassen sich nach der Studie #UseTheNews des Leibniz-Instituts für Medienforschung von 2021 lieber auf Infos aus Social Media-Kanälen als auf journalistische Quellen. Es fehlt an kritischem Know-how. Wie funktioniert das Netz überhaupt, wie arbeiten Algorithmen, welche Metadaten zum Bild mache ich automatisch öffentlich, wenn ich Fotos hochlade, wie erkenne ich Fake News?

„Wir wollen den kritischen Umgang und die selbstbestimmte Teilhabe junger Menschen in der digitalen Gesellschaft fördern.“ (Bernd Gabler)

Überall in der Republik gibt es deshalb Medienkompetenzzentren, die mit Angeboten für Schulen, Workshops und Expertentagungen digitale Bildung vorantreiben wollen. In Berlin etwa sind in Kooperation von Senat, Stiftungen und Bezirken seit 2001 zwölf Medienkompetenzzentren entstanden, eines in jedem Berliner Bezirk. Bernd Gabler vom Landesprogramm jugendnetz Berlin, das die Zentren koordiniert: „Wir wollen den kritischen Umgang und die selbstbestimmte Teilhabe junger Menschen in der digitalen Gesellschaft fördern.“

Die Medienkompetenzzentren wurden von den Bezirken eingerichtet, angedockt an Jugendfreizeiteinrichtungen oder Jugendbildungsstätten – wie das Meredo in Reinickendorf. Seit vier Jahren fördert die Senatsverwaltung für Bildung die Kooperation der Zentren mit Schulen zusätzlich mit gut 600.000 Euro jährlich aus dem Programm „Medienbildung für gute Schule“. Schulen buchen Projekttage oder Workshopwochen, finanziert wird das Angebot variabel aus einem Mix von städtischen Geldern, Schulbudget und Zuschüssen von Stiftungen.

Anschaulich, praxisorientiert, lebensnah

Meredo Reinickendorf, 11 Uhr. Luca, Leon, Sami und ihre Mitschüler stürzen zum Verkleidungsschrank, ziehen Polizeiweste, Perücken, Bärte, Strohhut und einen Zylinder aus den Regalen. Vor der grünen Wand im Fotoraum werfen sie sich nacheinander in Pose. Als knallharter Soldat, Junge vom Land, Detektiv mit Schnäuzer und Lupe. „Hey, cool so“, ruft Leon und drückt auf den Auslöser der Tablet-Kamera – fertig ist die Pose vorm Green Screen in ein Bild aus dem Internet eingebaut. Verdammt echt sieht das manchmal aus. Kein Wunder, dass Nachrichten mit Bildern manipuliert werden können. Und schon steckt die Gruppe mittendrin in der Debatte über die Macht falscher Bilder.

„Wir wollen keine Zeigefingerpädagogik, sondern die Jugendlichen in ihrer Welt abholen.“

Anschaulich, praxisorientiert, lebensnah – darauf kommt es dem Meredo-Team an. Mal Roboter bauen, mal Onlinespiele entwickeln, mal Videos drehen. „Wir wollen keine Zeigefingerpädagogik, sondern die Jugendlichen in ihrer Welt abholen“, sagt Pädagogin Rössler. Und dann einhaken: den kritischen Blick auf die Mechanismen des Netzes schulen und den eigenen Medienkonsum hinterfragen.

Traumhaus in 3D

Rückblende. Ein Mittwoch im August, zu Besuch bei „Medienmacherinnen Traumwelten“. Knapp 20 Mädchen sind gekommen. Im Raum rechts haben Noa und Ruth mit einem speziellen Programm für 3-D-Umgebungen Baustein für Baustein am Laptop ein Traumhaus gebaut, mit Teppichen, bunten Sofas und grüner Landschaft. „Es ist so toll, das selbst mit richtigen Virtual-Reality-Brillen machen zu können, ich versteh das jetzt viel besser“, sagt Noa.

Im Raum links werkeln Sofiia, Lisa und fünf andere an Modellen aus Bastelmaterialien, LED-Tafeln, Platinen und Elementen aus dem 3-D-Drucker. Kabel, Birnchen, Heißkleber, Lötkolben liegen auf dem Tisch. Aus dem Vorraum dringt das Ratsch-Ratsch der Printer. Sofiia hat das Fliegenpilzdach aus dem Drucker schon auf ihre Papphütte gesetzt, vor dem Eingang flackern LED-Lichter in kleinen Laternen. Über eine Platine werden sie gesteuert. „Ich hätte nie gedacht, wie einfach das ist“, sagt Sofiia. Stromkreis bauen, Platinen mit der Open-Source-Software Arduino steuern, LEDs anbringen, den 3-D-Drucker instruieren – all das haben sie in den ersten Tagen des Ferienkurses Schritt für Schritt gelernt.

Lisas Marvel-Welt besteht trotzdem nur aus zu Hochhäusern umfunktionierten Tetrapacks, Pappfiguren und einer Straße aus Folie. „Ich finde es schön, wenn es in meiner Heldenwelt mal ohne Tech geht.“ Pädagogin Rössler: „Genau das ist es: sich bewusst werden, dass man selbst entscheiden kann, wie und wann man Technik einsetzen will und wann nicht.“

„Medienkompetenzbildung muss mit den Schulen verzahnt sein.“

Zurück zum Projekttag der 10. Klasse nach den Ferien. Abschlussrunde im Zelt des Meredo-Gartens. Die Fake Fotos werden auf dem White Board präsentiert. Woran erkennt man Fake, wann führt es in die Irre? Lehrerin Jana Mauermann nickt. „Auf die kritische Reflexion kommt es an, das werde ich vielleicht im Unterricht nochmal aufgreifen.“ Genauso ist es gedacht. „Medienkompetenzbildung muss mit den Schulen verzahnt sein“, sagt Pädagogin Rössler. Alle Arbeitsmaterialien des Projekttages werden daher zur Weiternutzung an die Lehrkräfte verschickt, ein Feedbackgespräch ist Standard. Was war gut, was hat gefehlt, was wünscht ihr euch noch?

Für die Zehntklässler ist es eine klare Sache: Was war am spannendsten? „Darknet“, rufen Luca und Leon. „Vieles wusste ich gar nicht“, sagt Luca. „Es macht Spaß, selbst anzupacken, wie beim Rätselspiel“, meint Leon. „Schade, dass der Projekttag schon vorbei ist.“