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Politische Teilhabe von Flüchtlingen

„Demokraten gesucht!“

Das Projekt „Comparti“ in Chemnitz unterstützt Flüchtlinge dabei, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Dafür wurde es mit dem ersten Preis des Bundesausschusses Politische Bildung (bap) ausgezeichnet.

Der Verein Agiua e.V. in Chemnitz begleitet Migranten und Jugendliche in rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen und Nöten. Foto: Sebastian Willnow

Es waren dramatische Tage im August vorigen Jahres, nachdem auf dem Chemnitzer Stadtfest mutmaßlich ein Iraker und ein Syrer den jungen Deutschen Daniel H. mit Messerstichen töteten. Tagelang beherrschte ein rechtsextremer Mob die Straßen und die internationalen Schlagzeilen. Auch beim Verein AGIUA (Arbeitsgemeinschaft In- und Ausländer) haben sie das Beben schmerzlich zu spüren bekommen: Während reihenweise Journalisten bei AGIUA anriefen, um sich über die Situation von Ausländern in der Stadt zu informieren, musste sich das Team um seine eigene Sicherheit kümmern: Fluchtwege im Büro freiräumen und dafür sorgen, dass niemand abends alleine im Büro sitzt oder unbegleitet nach Hause gehen muss, um vor der Bedrohung durch Rechtsextreme geschützt zu sein.

Dabei begleitet der Verein eigentlich selbst Migranten und Jugendliche in rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen und Nöten. Ihr Projekt Comparti unterstützt zudem Geflüchtete, die sich im öffentlichen Leben der Stadt engagieren wollen. Und das mit Erfolg: Das Projekt wurde Mitte dieses Jahres mit dem ersten Preis des Bundesausschusses Politische Bildung ausgezeichnet – unter deutschlandweit 142 Bewerbern.

Flüchtlinge wollen helfen

Ein Ortsbesuch: An der stark befahrenen Müllerstraße am Rande der Innenstadt liegt das Chemnitzer Bürgerhaus. Es ist Anlaufpunkt für Menschen mit verschiedenen Alltagsproblemen und Ausgangspunkt für neue Initiativen im Stadtteil. Im hell getünchten, flachen Hinterhaus hat der AGIUA-Verein seine Büros. Besucher begrüßt im Treppenhaus ein Plakat in sieben Sprachen: „Herzlich willkommen“. Vor zwei Jahren hat Jeanette Hilger hier begonnen, „Comparti“ aufzubauen. Nach ihrem Pädagogik-Studium mit dem Schwerpunkt Lernkulturen hatte die 29-Jährige zunächst noch ein Jahr an der Chemnitzer Universität gearbeitet, dann war sie zum Verein gekommen.

„Comparti“ kümmert sich nicht um die existenziellen Fragen von Geflüchteten nach der Ankunft in Sachsen, die sich um Wohnen und Essen, Schulen und Ärzte drehen. Das Projekt unterstützt Menschen, die schon eine Weile in Deutschland leben und sich in der Gesellschaft engagieren wollen: Da ist der Mann aus Pakistan, der sich diesen Sommer im Migrationsbeirat der Stadt einbringen möchte und sich dafür bewerben muss. Da sind junge Leute aus Afghanistan und Venezuela, die die Ortsgruppe des deutschlandweiten Verbandes „Jugendliche ohne Grenzen“ neu beleben. Und da sind Gruppen von Georgiern, Syrern und pakistanischen Christen, die ihre eigenen Vereine auf die Beine stellen. „Nach den Fragen des Ankommens entstehen die Fragen des Bleibens“, sagt Hilger. „Die Menschen wollen der Gesellschaft, in der sie viel Hilfe erfahren haben, etwas zurückgeben oder ihre eigenen Wünsche artikulieren können.“

„Als ich mich eingelebt und im Studium zurechtgefunden hatte, wollte ich gern ein aktiver Teil dieser Gesellschaft sein.“ (Daria Szücs)

Es sind Menschen wie Daria Szücs. Die 22-Jährige kam vor vier Jahren zum Psychologie-Studium aus Timisoara im Westen Rumäniens nach Chemnitz. „Als ich mich eingelebt und im Studium zurechtgefunden hatte, wollte ich gern ein aktiver Teil dieser Gesellschaft sein“, erzählt sie. „Ich suchte nach Möglichkeiten, mich zu engagieren.“ Über einen Flyer an der Uni stieß sie zu AGIUA und meldete sich bei Hilger. Gleich am nächsten Tag besuchte sie eine Info-Veranstaltung über die Rechte von europäischen Bürgern in Deutschland – und unterstützt seither die Arbeit von „Comparti“: Stände und Veranstaltungen organisieren, Social-Media-Kanäle bespielen, Flyer verteilen, Flüchtlinge betreuen. „Wenn man mit diesen Menschen spricht, bekommt man ein ganz anderes Bild von der Welt als im Internet“, sagt sie. „Ich habe so erst richtig schätzen gelernt, wie privilegiert ich als Bürgerin der Europäischen Union bin.“

Oft ist die Arbeit von „Comparti“ nicht leicht. Der junge Mann aus Afghanistan etwa, der die Initiative „Jugendliche ohne Grenzen“ wieder mit belebte, war monatelang von Abschiebung bedroht. Erst als er einen Ausbildungsplatz fand, durfte er bleiben. Jetzt wird er Frisör in Dresden. „Diese Ungewissheit hat uns lange belastet“, erzählt Hilger. Eine junge Frau aus Venezuela, die ein Projekt zur Spurensuche von jüdischen Menschen in Chemnitz mitgestaltet hatte, hätte aufgrund ihrer Residenzpflicht ursprünglich nicht zum Jugendgeschichtstag im Dresdner Landtag fahren können. Das Team von „Comparti“ musste etliche Telefonate führen und E-Mails schreiben. „In letzter Minute durfte sie noch mitkommen — und wir haben sogar einen Preis für unser Projekt bekommen.“ Die jungen Leute hatten Rundtouren zu Stolpersteinen über die Schicksale von Juden und jungen Menschen im Widerstand erstellt.

„Neonazi-Demos haben wir immer mal wieder.“ (Jeannette Hilger)

Die Ausschreitungen von Neonazis und Hooligans im August 2018 hätten das Leben in Chemnitz eine ganze Weile überschattet, erzählt die Projektleiterin. Geflüchtete trauten sich ab dem späten Nachmittag nicht mehr auf die Straße und überlegten, ob sie ihre Kinder noch in die Schule schicken können. Wirklich überraschend sei diese Atmosphäre aber nicht gewesen. „Wir erleben diese Grundstimmung seit den 1990er-Jahren tagtäglich“, sagt Hilger. Bei der Stadtratswahl Ende Mai bekam die AfD fast 18 Prozent und die rechte Bewegung Pro Chemnitz 7,7 Prozent. „Neonazi-Demos haben wir immer mal wieder.“ Dass die Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund einen Unterschlupf und Unterstützung in Chemnitz gefunden hatte, sei durchaus symptomatisch und kein Zufall gewesen.

Umso größer ist die Bedeutung von Projekten wie „Comparti“, hob Caren Marks, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium, bei der Preisverleihung hervor. „Die Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten. Menschen, die diese Werte im Alltag leben und für eine demokratische Streitkultur einstehen. Mitbürgerinnen und Mitbürger, die bei allen Unterschieden das Verbindende in den Vordergrund stellen und unseren Zusammenhalt stärken.“

Finanzierung läuft 2020 aus

Der Preis für politische Bildung stand in diesem Jahr unter dem Motto: „Wir müssen reden!“ Prämiert wurden Initiativen, die innovative Formate für die Bildungsarbeit entwickelt haben. So ging der zweite Preis an das Demokratiewerkstatt-Projekt „nur ein Viertel Heimat“ in Stolberg in Nordrhein-Westfalen. Dritter Sieger wurde die App „Diskutier mit mir“ aus Berlin, die sehr erfolgreich Menschen unterschiedlicher Anschauungen zum Meinungsaustausch zusammenbringt. Einen Sonderpreis bekam das Projekt „Rent a Jew“, das Juden ehrenamtlich als Dialogpartner vermittelt.

Der „bap-Preis“ Politische Bildung wird seit 2009 alle zwei Jahre mit einem neuen Schwerpunkt ausgeschrieben. Stifter ist der Bundesausschuss Politische Bildung als deutschlandweites Bündnis von Anbietern außerschulischer Jugend- und Erwachsenenbildung zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung sowie mit Unterstützung des Bundesfamilienministeriums.

Ausgelobt wird der Preis vor allem für Projekte und Veranstaltungen, die die demokratische Kultur stützen und entwickeln, politisches Lernen kreativ fördern und wichtige Impulse für das Gemeinwesen setzen. Drei Anforderungen, die „Comparti“ erfüllt. Dabei ist Hilger mit einer 30-Stunden-Stelle, die vom Bundesinnenministerium bezahlt wird, beinahe eine Einzelkämpferin. Ihr steht lediglich ein Kollege für ein paar Stunden in der Woche zur Verfügung. Doch sie bekommt reichlich Unterstützung von einem Netzwerk aus Projektpartnern, Praktikantinnen und Praktikanten, Ehrenamtlern oder Studentinnen und Studenten wie Daria.

Im März 2020 läuft die Finanzierung von „Comparti“ aus. Doch Hilger gibt so schnell nicht auf. Sie schreibt schon Anträge für Nachfolgeprojekte. „Die vielen unterschiedlichen Menschen, die sich in unserer Gesellschaft einbringen wollen, haben einen besonderen Gemeinschaftssinn“, sagt sie. „Den möchte ich gern weitertragen.“