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Dauerhafter Notstand
Unter dem Personalmangel in Schulen, Kitas und der Jugendhilfe leiden die Bildungsqualität, die Betreuung der Kinder und Jugendlichen sowie die Fachkräfte. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung könnte die Misere weiter verschärfen.
Ende 2023 platzt Yvonne Lichnok der Kragen. 25 Jahre ist die Mathe- und Physiklehrerin im sächsischen Schuldienst, seit August 2021 leitet sie die Geschwister-Scholl-Oberschule Krauschwitz in der Oberlausitz. Doch die Bedingungen für die 240 Schülerinnen und Schüler sowie das Kollegium sind für sie kaum noch tragbar. „Ich habe nur Krisen kennengelernt“, sagt die 54-Jährige. „Ich kann meinem Bildungsauftrag nicht mehr gerecht werden.“ Statt der 21 benötigten Lehrkräfte stehen an der Schule zurzeit nur 16 Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung. Die Folgen: Ausfall von Unterricht, Aufhebung der Binnendifferenzierung und gravierende Wissenslücken in Abschlussklassen.
„Ich finde es dreist, dass man die Schulen mit den Problemen nahezu allein lässt.“ (Yvonne Lichnok)
Die engagierte Lehrerin wagte sich aus der Deckung und schrieb als Privatperson eine Petition an den Landtag, die von mehr als 500 Menschen unterzeichnet wurde. Lichnok bekam sogar einen Termin mit dem damaligen Kultusminister Christian Piwarz (CDU). Sie nutzte auch die Auftritte der Politprominenz in Dresden, um nach Hilfe zu rufen. Vergeblich. Als Antwort auf ihren Kampf bleibt ihr ein Satz Piwarzs in prägender Erinnerung: Man könne Lehrkräfte eben nicht backen. „Ich finde es dreist“, sagt sie, „dass man die Schulen mit den Problemen nahezu allein lässt.“
Bis 2030 fehlen mehr als 60.000 Lehrkräfte
Den Mut, sich öffentlich zu äußern, haben längst nicht alle. Doch Engpässe, Überlastung und Unterrichtsausfall sind vielerorts Alltag. Die jüngste Lehrkräfte-Bedarfsberechnung von Kai Eicker-Wolf und Ansgar Klinger von der GEW-Arbeitsgruppe Bildungsfinanzierung weist einen grassierenden Mangel aus: Bis 2030 fehlen mehr als 60.000 Lehrkräfte, bis 2034 sind es 74.000. Rechnet man den Bedarf für mehr Grundschulbetreuung, Inklusion und Schulen in schwierigen Lagen hinzu, fehlen ab 2030 bis zu 140.000 Lehrkräfte.
„Bildungsnotstand“ in einigen Regionen
Besonders betroffen sind Schulen in Wohngegenden, in denen sich Armuts- und soziale Problemlagen konzen-trieren, sowie ländliche Regionen. Dort sprechen politisch Verantwortliche bereits vom „Bildungsnotstand“. Claudia Maaß, seit 2012 Lehrerin für Englisch und Geschichte an einer Oberschule am Leipziger Stadtrand, kennt das Dilemma. Zeitweise konnten an ihrer Schule in Englisch nur zwei von vier Pflichtstunden unterrichtet werden. In Biologie, Gemeinschaftskunde, Musik und anderen Fächern fiel monatelang Unterricht aus. Förder-, Inklusions- und Integrationsstunden fallen zuerst weg, obwohl viele teilzeitbeschäftigte Kolleginnen und Kollegen ihre Stundenzahl aufgestockt haben oder sogar mehr als Vollzeit unterrichten.
„Wir schaffen Teile des Lehrplans gar nicht.“ (Claudia Maaß)
„Das Team arbeitet an der absoluten Belastungsgrenze“, sagt die 46-Jährige. Doch die Schülerinnen und Schüler bestehen Prüfungen angesichts der Wissenslücken nur knapp. „Wir schaffen Teile des Lehrplans gar nicht“, erzählt Maaß. An anderen Schulen im Freistaat sei die Lage noch schlimmer. „Im Erzgebirge und in der Region Bautzen gibt es Oberschulen, die einen planmäßigen Unterrichtsausfall von 15 bis 17 Prozent hatten.“ An manchen Schulen würden Klassen mehrmals in der Woche mit Aufgaben nach Hause geschickt, da der Krankheitsausfall nicht kompensiert werden kann, berichtet Maaß. Selbst Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger kommen an betroffenen Landschulen kaum an oder kündigen bald wieder, weil sie der Überlastung nicht standhalten.
„Wir erleben eine zunehmende Deprofessionalisierung in der Bildung.“ (Maike Finnern)
„Wir erleben eine zunehmende Deprofessionalisierung in der Bildung“, warnt die GEW-Vorsitzende Maike Finnern. „Oft geht es nur noch darum, Unterricht oder Betreuung abzudecken – egal wie.“ Die Qualität der Bildung gerate zunehmend unter Druck. Dieser besorgniserregenden Entwicklung müsse man dringend entgegenwirken. Ein Schlüssel dafür liege in den Rahmenbedingungen, unter denen Kolleginnen und Kollegen gut arbeiten können – und nicht fortdauernd überlastet sind, weil sie für zwei arbeiten müssen. „Wenn die Arbeitsbedingungen besser wären, könnte man guten Gewissens mehr Leute für den Bildungsbereich werben“, so Finnern.
Dazu gehörten auch eine Reform und Öffnung der Lehrkräfteausbildung sowie ein Ausbau der Studien- und Referendariatsplätze. Daneben müsse die Anerkennung im Ausland erworbener Lehrämter deutlich vereinfacht werden: „Wir verlieren viele Menschen, die im Ausland als Lehrkraft gearbeitet haben.„“
Hoher Anteil prekär Beschäftigter in Kitas
Die Ursache für die Misere sei nicht nur der demografische Wandel, sondern liege auch in den politischen Versäumnissen der Vergangenheit, sagt Finnern. Beispiel Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder, die jünger als drei Jahre sind: Hier sei es nicht geschafft worden, die notwendige Personal- und Infrastruktur sicherzustellen, um ein verlässliches Angebot für alle zu gewährleisten. Bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsförderung an Grundschulen ab August 2026 drohe erneut eine personelle Unterausstattung.
Durch die Regelung über das achte Sozialgesetzbuch sei auch der Bund in der Pflicht, erläutert Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit. Die nächste Bundesregierung müsse den Rechtsanspruch absichern und für mehr Fachkräfte sorgen. Dafür seien eine bessere Qualifizierung sowie Aus- und Weiterbildung und nicht zuletzt eine bessere Bezahlung nötig. „Bundesweit sind bisher 25 bis 30 Prozent des Personals im Ganztag prekär beschäftigt“, kritisiert Siebernik. Diese Situation müsse deutlich besser werden.
„Was der Notsituation geschuldet ist, könnte zur dauerhaften Praxis werden.“ (Bertelsmann Stiftung)
Personalmangel lernen Kinder in Deutschland allerdings schon vor der Schulzeit kennen. Der Paritätische Gesamtverband ermittelte unlängst für die Kita-Landschaft 125.000 fehlende Fachkräfte. Daten des Ländermonitorings Frühkindliche Bildungssysteme der Bertelsmann Stiftung zeigen zudem, dass Einrichtungen immer mehr Kräfte ohne formale pädagogische Voraussetzungen einstellen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. „Was der Notsituation geschuldet ist, könnte zur dauerhaften Praxis werden“, warnt die Stiftung.
„Die Kolleginnen sind ausgebrannt, die Bildung der Kinder kommt viel zu kurz.“ (Daniela K.)
Daniela K. aus einer Kita im südlichen Bayern weiß, was das bedeutet. Die 54-jährige Erzieherin leitet ein Team mit zurzeit 14 Kolleginnen. Doch jede dritte Stelle ihrer Einrichtung ist derzeit nicht besetzt. „Die Belastungen, der Stress, die Überstunden und der Krankenstand sind hoch“, erzählt K., die sich im Verband Kita-Fachkräfte Bayern für bessere Arbeitsbedingungen engagiert. „Die Kolleginnen sind ausgebrannt, die Bildung der Kinder kommt viel zu kurz.“ Viele Kolleginnen hätten zudem Angst, zeitweise allein in einer Gruppe mit bis zu 25 Kindern zu stehen oder aufgrund der Angebotskürzungen Konflikte mit Eltern allein austragen zu müssen.
„Wir arbeiten am Limit“, sagt die erfahrene Kita-Leiterin, die selbst immer wieder Feuerwehreinsätze übernehmen muss. Es komme zu wenig Nachwuchs in die Einrichtungen, weil der Job für viele junge Leute nicht mehr attraktiv sei. Nötig seien kleinere Gruppen, zusätzliches Personal und mehr Zeit für Leitungsarbeit.
Jugendämter permanent überlastet
Auch die Teams der Jugend- und Familienhilfe leiden unter Personalmangel, Überlastung und zu geringer Bezahlung. In Berlin machen Beschäftigte aus Jugendämtern mit ihrer Initiative „Weiße Fahnen“ seit mehr als zehn Jahren auf die Unterbesetzung aufmerksam. „Das gesamte Jugendhilfesystem inklusive des Jugendamtes befindet sich im Kollaps“, sagt Anja Schauer von der AG Weiße Fahnen. „Statt bedarfsgerechter Unterstützung herrscht Elendsverwaltung.“ Kürzungen in Millionenhöhe, Arbeitsüberlastung und eine mangelhafte Ausstattung machten die Arbeit zum täglichen Kraftakt.
Berlin ist kein Einzelfall. Nur ein Drittel der deutschen Jugendämter sieht sich in der Lage, alle Meldungen auf mögliche Kindeswohlgefährdungen aufzunehmen und zügig zu bearbeiten, ergab eine Studie der SOS-Kinderdörfer und von Transparency International. Zwei von drei Behörden gaben an, aus Personalmangel oft nicht adäquat reagieren zu können. Selbst attraktive Stellen in der Kinder- und Jugendhilfe könnten teils nur schwer und mitunter gar nicht besetzt werden, warnt zugleich das Deutsche Jugendinstitut. Eine riesengroße Herausforderung für die neue Bundesregierung.