Zum Inhalt springen

Flucht und Asyl

Das Trauma anerkennen

Wie Schule zu einem sicheren Ort für geflüchtete, traumatisierte Kinder und Jugendliche wird, erläutert Leonie Teigler von der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF).

Foto: Pixabay / CC0
  • E&W: Rund 40 Prozent der geflüchteten Schülerinnen und Schüler sind aufgrund traumatischer Erlebnisse in Schule und sozialen Beziehungen deutlich beeinflusst. Welche Symptome zeigen sie?

Leonie Teigler: Das ist bei jedem Menschen anders. Eine typische Reaktion ist das ungewollte Wiedererleben des Traumas: Bei einem Flashback hat ein Kind das Gefühl, mit allen Sinnen in die traumatische Situation zurückversetzt zu sein. Bei weniger starken Formen des Wiedererlebens dringen bestimmte Erinnerungen, Bilder oder Gedanken an die Situation in das Bewusstsein, dominieren aber nicht alles. Aus Angst, immer wieder in diesen Zustand zu rutschen, vermeiden sie bestimmte Interaktionen, Orte oder Gespräche. Dieses Vermeiden wird oft als Depression oder Schüchternheit gelesen. In der Schule kann es dazu führen, dass betroffene Kinder sich ausschließen oder ausgeschlossen werden.

  • E&W: Auslöser für das Wiedererleben sind Trigger. Wie können Lehrkräfte darauf eingehen?

Teigler: Es ist fast unmöglich, alle Trigger zu vermeiden. Dennoch sollten Lehrkräfte versuchen herauszufinden, was als Trigger fungiert. Einen lauten Knall kann man leicht mit Kriegsgeräuschen assoziieren. Trigger können aber auch Farben, Gerüche oder Interaktionen sein, mit denen Außenstehende überhaupt nichts in Verbindung bringen können. Die Lehrkraft bemerkt nur, dass das Kind abwesend und nicht mehr ansprechbar ist. Oder es wird ganz aufgeregt und zieht sich entweder zurück, versteckt sich oder wird aggressiv. In der Regel kann auch das Kind die Trigger nicht zuordnen.

  • E&W: Wie sollte sich die Lehrkraft verhalten?

Teigler: Gut ist eine Grundhaltung von Ruhe und Akzeptanz. Es ist wichtig zu wissen, dass das Kind in dem Moment nicht gut unterscheiden kann, wo es gerade ist. Die Lehrkraft sollte in dieser Situation etwas tun, um das Kind in das Hier und Jetzt zurückzuholen. Eine räumlich-zeitliche Verortung kann da einen Kontext schaffen. „Schau mal, du bist hier im Klassenraum, lass uns mal an das Fenster gehen …“. Außerdem sind körperliche Stimuli hilfreich. Das geschieht zum Beispiel durch Anfassen, wenn es für das Kind in Ordnung ist. Auch ein Schluck kaltes Wasser kann hilfreich sein. Es ist wichtig, dem Verhalten Verständnis entgegenzubringen und sowohl dem Kind als auch den Mitschülerinnen und Mitschülern zu erklären, was passiert.

  • E&W: Was können Lehrkräfte beitragen, damit Schule ein sicherer Ort für diese Kinder wird?

Teigler: Schule hat das Potenzial, eine gute Ressource zu sein: Lehrkräfte können sie als Umfeld gestalten und eine Form von Sicherheit und Vorhersehbarkeit herstellen. Für Kinder ist es wichtig, eine Struktur zu haben, die sich nicht ohne weiteres verändert. Traumatisierte oder schwer belastete Kinder brauchen das Gefühl, dass ihre Grenzen respektiert werden und sie die Kontrolle über die Situation haben. Die Klassengemeinschaft sollte dabei unterstützt werden, gut miteinander umzugehen. Geflüchtete Kinder und Jugendliche sollten Anerkennung bekommen, und es sollte nicht weniger von ihnen erwartet werden als von anderen Schülerinnen und Schülern. Im Idealfall bietet Schule Attribute, die vorher und vielleicht auch in anderen Lebensbereichen in Deutschland nicht zu finden waren bzw. sind. Schule hat die Möglichkeit, ein starkes Gegengewicht zu schaffen – das sollten Lehrkräfte immer bedenken.

  • E&W: Sie spielen auf die Lebenssituation von Geflüchteten und den politischen Kontext in Deutschland an.

Teigler: Ja, aufgrund von Gewalterfahrungen brauchen geflüchtete Menschen hierzulande ein besonders sicheres Umfeld. Tatsächlich ist dieses aber oft maximal unsicher, von Angst und Sorgen geprägt und von dem Eindruck, dass man nicht gewollt ist. Die Erfahrungen von Rassismus und Ausgrenzung, die alle Geflüchteten machen, lassen sich nicht trennen von den traumatischen Erlebnissen, die sie im Herkunftsland und auf der Flucht gemacht haben.

  • E&W: Wie steht es um die Heilungschancen?

Teigler: Aus Untersuchungen wissen wir, dass die Anerkennung eines Traumas ausschlaggebend dafür ist, ob sich ein Mensch ansatzweise erholen kann. Es ist dabei wichtig zu realisieren, dass nicht jeder Mensch, der Furchtbares erlebt hat, automatisch an den Symptomen einer Traumafolgestörung leidet. Das Recht auf einen respektvollen Umgang und ein sicheres Umfeld sollte davon aber unberührt sein.

  • E&W: Wie geht die Gesellschaft mit den Traumata der Geflüchteten um?

Teigler: Einerseits gibt es eine große Betroffenheit in der Gesellschaft und die Bereitschaft, einen angemessenen Rahmen für traumatisierte Geflüchtete zu schaffen. Andererseits beobachten wir ein neues Narrativ. Traumatisierte Geflüchtete werden nicht mehr als besonders schutzbedürftig, sondern als gefährlich für die Gesellschaft wahrgenommen, weil sie angeblich eher gewaltbereit sind. Die Kinder werden im Diskurs zu tickenden Zeitbomben gemacht. Das ist eine sehr problematische, teilweise auch rassistische Darstellung. Es geht nicht mehr um Hilfe als Teil einer Willkommenskultur, sondern um den Schutz der Gesellschaft vor einer Bedrohung, die angeblich von diesen Menschen ausgeht. Dieser Diskurs bereitet uns Sorgen. Mit den Online-Kursen möchten wir Fachkräfte im Kontext Schule und Bildung darin unterstützen, dem etwas entgegenzusetzen.

Traumasensible Unterstützung in Sozialarbeit und Schule:

Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) und der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) haben ein kostenloses E-Learning-Programm der Augeo Foundation für Lehrkräfte und sozialpädagogische Fachkräfte in Deutschland, die mit geflüchteten, traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten, weiterentwickelt. Das Projekt wurde unter anderem von der GEW gefördert. 

Leonie Teigler / Foto: Henrike Hannemann