Fachkräftemangel in der Bildung
Das Schweinezyklus-Problem
Klagen über den Fachkräftemangel im Bildungsbereich sind nicht neu. Vor allem Schulen und Kitas sind seit Jahrzehnten unterbesetzt. Die Bildungsforschung hat darauf immer wieder hingewiesen, ist bei der Politik aber meist auf taube Ohren gestoßen.
Lehrerinnen und Lehrer gab es in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten – mit Ausnahme der 1990er-Jahre – eigentlich nie genug. So hieß es 1974 in einer TV-Reportage des ARD-Magazins Panorama: Die Grundschulklassen seien überfüllt und an den Gymnasien werde heute ein Viertel des Unterrichts durch Hilfskräfte erteilt, ein weiteres Viertel falle ganz aus. Als Grund für die Misere wurde „andauernder Lehrermangel“ genannt.
Die Antwort der Politik bestand damals allerdings nicht darin, mehr Lehrerinnen und Lehrer auszubilden. Im Gegenteil: Bundesregierung und Kultusministerkonferenz (KMK) sagten 1975 für das Jahr 1980 einen Lehrkräfteüberschuss von 24.000 bis 71.000 bzw. 12.000 bis 35.000 Personen voraus und rieten – mit Verweis auf die sinkende Geburtenrate – von einem Lehramtsstudium ab. Auch damals wies die GEW darauf hin, dass solche Prognosen fehlerhaft seien; wenn Gesamt- und Ganztagsschulen mehr als nur Versuche bleiben sollten und der Mangel in einigen Fächern behoben werden solle, müssten bis Mitte der 1980er-Jahre nicht weniger, sondern mindestens 250.000 zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden.
Lehrkräftemangel und -schwemme zugleich
Dazu ist es bekanntermaßen nicht gekommen, und so stellte der Geschäftsführer des Instituts zur Weiterqualifizierung im Bildungsbereich an der Universität Potsdam, Prof. Bernhard Muszynski, vor drei Jahren in einem Beitrag für die Friedrich-Ebert-Stiftung fest: Eine „hinreichende Ausstattung der Schulen mit ausgebildeten Lehrern über das volle Fächerspektrum aller Schularten hinweg“ sei in den vergangenen Jahrzehnten „wohl nie erreicht“ worden. Muszynski bezog in seine Analyse auch die DDR mit ein, in der sich die Situation erst zu Beginn der 1980er-Jahre entspannt habe, während etwa zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik Prognosen wieder einen „sektoralen Lehrermangel“ für die 1990er-Jahre voraussagten.
Auch der Seiten- bzw. Quereinstieg in den Beruf des Lehrers oder der Lehrerin ist kein neues Phänomen. Dies gilt vor allem für die sogenannten MINT-Fächer. Zu diesem Schluss kam 2010 eine Analyse zum Seiteneinstieg von Physiklehrerinnen und -lehrern. 2011 prognostizierte die KMK Lehrkräftemangel und -schwemme zugleich. Während bis 2020 für Gymnasien jährlich bundesweit rund 4.000 Lehrkräfte zuviel ausgebildet werden würden, werde es an Berufs- und Sonderschulen sowie in den ostdeutschen Ländern einen Lehrkräftemangel geben.
Kindgerechte Personalausstattung unwahrscheinlich
Mit dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz, der seit 1996 für Kinder, die älter als drei Jahre sind und seit 2013 für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr gilt, hat auch in der frühkindlichen Bildung der Personalmangel zugenommen. Schon 2011 stellte die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) fest, dass sich „in einigen Regionen ein Fachkräftemangel im Kita-Bereich“ abzeichne.
Laut einer Analyse der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2021 klafft im Kita-Bereich mittlerweile eine enorme Lücke zwischen dem für die kommenden Jahre prognostizierten Bedarf und dem Angebot an Fachkräften. Bis zum Ende des Jahrzehnts fehlen demnach mehr als 230.000 Erzieherinnen und Erzieher. Fazit der Forscherinnen und Forscher: „Eine kindgerechte Personalausstattung und zugleich ausreichend Plätze in allen Kitas sind in diesem Jahrzehnt nicht mehr zu realisieren.“
Und im aktuellen Fachkräfte-Radar der Stiftung wird der zusätzliche Bedarf an Fachkräften bei einem flächendeckenden und personell gut ausgestatteten Ganztag nach Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf eine Ganztagsbetreuung an Grundschulen 2026 auf mehr als 100.000 pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beziffert.
Sozialarbeit: Fachkräftemangel so groß wie nie
Auch im Arbeitsfeld der offenen Kinder- und Jugendarbeit ist der Fachkräftemangel zunehmend spürbar. 2009 hieß es im Kurzbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit, dass die sozialen Berufe im Herbst 2008 „erstmals zu den Top-Fünf des Arbeitskräftebedarfs“ gehörten.
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kommt in einer aktuellen Untersuchung zum Ergebnis, dass von den bundesweit knapp 26.500 offenen Stellen im Bereich der Sozialarbeit zurzeit rund 20.600 aufgrund fehlender qualifizierter Bewerberinnen und Bewerber nicht besetzt werden könnten. In diesem Bereich sei der Mangel „so groß wie nie zuvor“ gewesen.
An den Schulen fehlten nach GEW-Schätzungen zum Start in das Schuljahr 2022/23 bundesweit zwischen 20.000 und 25.000 Lehrerinnen und Lehrer. Und während es im Süden und Westen der Republik an den Gymnasien mehr Bewerberinnen und Bewerber als Stellen gibt, bleiben in anderen Landesteilen und Schulformen viele Stellen unbesetzt. Die Antwort der Politik auf das Problem ist die gleiche wie 1974: mehr Quereinsteigende, größere Klassen und einkalkulierter Stundenausfall.