Zum Inhalt springen

Mobile Zirkusschule

Das rollende Klassenzimmer

Unterricht auf Zirkusplätzen und Jahrmärkten: Um den Kindern von beruflich Reisenden ständige Schulwechsel zu ersparen, sind Lehrkräfte in Hessen und Nordrhein-Westfalen mit mobilen Klassenzimmern unterwegs.

In ihrem Wohnwagen in Gießen rutscht Sydney Frank, 16, auf die samtbezogene Eckbank mit dem Blumenmuster, klappt ihren Laptop auf und setzt ein Headset auf. Ihre Cousine Manjana, 15, packt ebenfalls Rechner und Arbeitsheft auf den Tisch, stöpselt das Kabel in die Steckdose. Und los geht‘s. Dienstag und Donnerstag, 9 bis 12 Uhr, haben die Mädchen regulär Unterricht. Der Wohnwagen mit den Rüschengardinen wird zum Klassenzimmer. Ihr Lehrer Johannes Bühler ist online dabei. „Der Unterricht läuft individuell ab“, sagt Bühler. „Mal erkläre ich am Headset der einen Schülerin etwas, mal der anderen.“

Direkt nach dem Unterricht schlüpft Sydney ins Kostüm und steht als Gretel oder Rotkäppchen auf der Bühne. Die Familie reist mit einem Kindertheater durchs Land, baut ihr rotes Zelt teilweise jede Woche in einer anderen Stadt auf. Die Schule für Kinder beruflich Reisender (SfKbR) in Hessen macht es möglich, dass Sydney trotzdem kontinuierlich lernen kann. „Wir sind so froh, dass es diese Schule gibt“, betont ihre Mutter Heidi Frank.

„Wir sehen den Erfolg. Fast jedes Kind verlässt die Schule mit einem Abschluss.“ (Birgid Oertel)

Schätzungen zufolge sind bundesweit etwa 10.000 Schülerinnen und Schüler fast das ganze Jahr über auf Reisen. Ihre Eltern arbeiten beim Zirkus oder auf der Kirmes, ziehen von Stadt zu Stadt. „Eine extreme Herausforderung für das Bildungssystem“, sagt Birgid Oertel vom Verband zur Förderung der schulischen Bildung und Erziehung von Kindern der Angehörigen reisender Berufsgruppen in Deutschland (BERiD). Die Kinder wechselten bis zu 35 Mal im Jahr die Schule. Die Folge seien häufig Überforderung und Demotivation. Abschlüsse seien die Ausnahme.

Deshalb hat sich vor 25 Jahren die Schule für Circuskinder in NRW gegründet. Vor zehn Jahren folgte die Schule für Kinder beruflich Reisender in Hessen ihrem Beispiel, Träger ist die Evangelische Innere Mission (EVIM). Das Konzept: Die Lehrkräfte sind mit Lernmobilen unterwegs – und unterrichten die Schülerinnen und Schüler auf Zirkusplätzen oder Jahrmärkten. Zudem spielt E-Learning eine immer größere Rolle. Ist die Familie in einem anderen Bundesland auf Tour, findet der Unterricht per Laptop statt. „Wir sehen den Erfolg“, sagt Oertel. „Fast jedes Kind verlässt die Schule mit einem Abschluss.“

„Wir haben viel Spielraum. Wenn jemand in einem Fach etwas länger braucht, ist das kein Problem.“ (Johannes Bühler)

Jacqueline – die ältere Schwester von Manjana – hat 2019 sogar Abitur gemacht, als erstes Kind aus einer Reisefamilie in Hessen. Dafür musste sie nach dem Realschulabschluss auf ein Internat wechseln. Die 19-Jährige studiert jetzt Psychologie. Noch gut erinnert sie sich an ihre ersten Schuljahre an regulären Schulen: Viermal habe sie die Uhr gelernt, dreimal ihren Fahrradführerschein gemacht. „Dafür habe ich viele andere Dinge im Unterricht verpasst“, sagt Jaqueline. Ihre Eltern sind als Puppenspieler unterwegs, von Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern. Das heißt: Nicht nur andere Schulen, andere Lehrkräfte, andere Schülerinnen und Schüler, sondern auch andere Lehrpläne. Meist hätten die Lehrkräfte sie an die letzte Bank gesetzt, so Jacqueline, und sich nicht weiter um sie gekümmert. Hinzu kamen Vorurteile, weil sie im Wohnwagen lebten. „Ich hatte Angst, dass meine Töchter die Lust auf Schule verlieren“, sagt ihr Vater Heiner Frank.

Mit der Schule für Kinder beruflich Reisender veränderte sich für Jacqueline in der 7. Klasse alles schlagartig. Sie sei nicht mehr mit Bildern zum Ausmalen abgespeist, sondern individuell gefördert worden. Großer Vorteil: Die Klassen sind klein. Zwölf Lehrkräfte sind für rund 100 Schülerinnen und Schüler zuständig, hinzu kommen die Kinder aus anderen Bundesländern, die gerade auf Tour durch Hessen sind. „Wir haben viel Spielraum“, betont Bühler. „Wenn jemand in einem Fach etwas länger braucht, ist das kein Problem.“

Die Kinder bekommen viele Hausaufgaben, die Zeit dafür teilen sie sich selbst ein. Manjana berichtet, dass sie immer einen Tagesplan erstellt – und sogar festlegt, wann sie Pause macht. Ihre Ergebnisse speichert sie online in einem Abgabeordner. Sydney erledigt ihre Aufgaben in der Regel vormittags. Doch es kommt auch mal vor, dass sie vor einem Auftritt in der Garderobe etwas für die Schule macht, nebenbei pustet sie Luftballons auf, verkauft Süßigkeiten und stellt Stühle auf. „Für mich ist das ganz normal“, sagt sie. „Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen.“

Die Leiterin der Schule für Circuskinder in NRW, Annette Schwer, betont, dass die Schülerinnen und Schüler ihr Lernen selbst steuerten. Darin sieht sie ein Modell für die Zukunft, auch mit Blick auf Inklusion. Das Erfolgsrezept: Individualförderung statt Frontalunterricht. Die Schulleiterin wünscht sich, dass andere Bundesländer nachziehen. Bundesweit werden die Schülerinnen und Schüler bei ihren Schulwechseln von Bereichslehrkräften unterstützt. Jede Schule muss den Lernstand in ein einheitliches Schultagebuch eintragen. Früher habe es nur einen Stempel für die Anwesenheit gegeben, berichtet Bühler. Als Nachweis, dass der Schulpflicht nachgekommen wurde. Ab nächstem Schulhalbjahr wird ein digitales Schultagebuch eingeführt.

„Bei uns ist es wie in einer alten Volksschule auf dem Dorf. Alle lernen zusammen.“

Auch die jüngeren Kinder geraten in den Blick. Bislang besuchten sie selten einen Kindergarten, sagt Oertel, Projektleiterin für frühkindliche Bildung bei BERiD. Zum einen seien die meisten Kitas überfüllt. Zum anderen brauchten jüngere Kinder eine Eingewöhnung und feste Strukturen. In Hessen gibt es jetzt grünes Licht für ein dreijähriges Pilotprojekt. In NRW startet im Frühjahr auf der Fronleichnamkirmes im Ruhrgebiet zum allerersten Mal ein Angebot zur frühkindlichen Förderung, mit auf die Arbeitszeiten der Schausteller abgestimmten Öffnungszeiten. Das Thema müsse auf die Tagesordnung der Jugend- und Familienkonferenz der Länder, fordert Oertel, damit auch für Kinder beruflich Reisender das Recht auf einen Kindergartenplatz umgesetzt wird.

Wenn die jüngeren Geschwister über den Zirkusplatz toben, dürfen sie auch mal mit ins Lernmobil klettern. „Wir lassen niemand draußen stehen“, sagt Torsten Rudloff, Leiter der Schule für Kinder beruflich Reisender. Die Lehrkräfte bastelten oder spielten mit ihnen. „Unsere Schule zeichnet sich durch hohe Flexibilität aus.“

Im Wohnwagen von Sydney sitzt ihr Cousin Noah, 7, mit am Tisch – und zählt blaue Punkte und rote Striche zusammen. „Bei uns ist es wie in einer alten Volksschule auf dem Dorf“, sagt Bühler. „Alle lernen zusammen.“ Sydney macht gerade ihren Realschulabschluss. Danach will sie hauptberuflich Theater spielen. „Und dann, mal sehen“, sagt Sydney. Ihre Mutter gibt zu bedenken, dass die Familie kein festes Einkommen habe – und die Zeiten immer schwieriger würden. Ihr ist wichtig, dass ihre Tochter eine Perspektive hat. Noah will Polizist werden.

„Ohne die Schule für Kinder beruflich Reisender wäre das nicht möglich“, ist seine Mutter Stefanie Frank überzeugt. Sie selbst wäre auch gerne Polizistin geworden, gesteht die 40-Jährige. Ihre Schwester staunt: „Das hast du nie erzählt.“ – „Ich wusste ja, dass es nicht geht.“ Sie habe nicht mal einen Schulabschluss. Ihr Sohn soll es besser haben. „Er soll Polizist werden. Oder auch nicht.“ Aber er soll nie hören: „Das geht nicht.“ Manjana weiß genau, was sie will: „Ich will Abitur machen“, sagt die 15-Jährige bestimmt. „So wie meine Schwester.“ Bühler ist überzeugt: „Da finden wir einen Weg.“