Bildungs(unter)finanzierung
„Das reicht hinten und vorne nicht“
Unterricht im Container, Ehrenamtliche übernehmen Leseförderung, Kitas fahren Notfallpläne. Die jahrelange Unterfinanzierung der Bildung hat viele Gesichter. Mittlerweile sind nicht nur ärmere Regionen betroffen.
Container reiht sich an Container. 17 an der Zahl. Ein Mädchen in hellblauen Jeans geht die Rampe zum Eingang hoch. Jungen mit Rucksäcken verschwinden hinter der Tür. „Da ist die komplette Grundschule drin“, sagt Torsten Marienfeld, Schulleiter der Alfred-Adler-Schule in Duisburg-Walsum. 80 Mädchen und Jungen werden in den hellgrauen Blechkisten unterrichtet. Was den 51-jährigen Schulleiter besonders ärgert: „Kein einziger der Container hat Wasseranschluss.“ Die dafür nötigen Leitungen für den Zu- und Abfluss zu legen, hätte zusätzliche Kosten verursacht. Und diese Kosten wollte die Stadt Duisburg nicht aufbringen, vermutet der Schulleiter. „Hygienische Zustände, die – erst recht nach Corona – untragbar sind“, urteilt Marienfeld. Die nächste Waschgelegenheit liegt 200 Meter entfernt – im Toilettencontainer auf dem Schulhof.
Landauf, landab arbeiten Städte und Kreise daran, kaputte Schulgebäude und abgerockte Kita-Räume zu sanieren, zu erweitern oder entsprechend den pädagogischen Erfordernissen neu zu bauen. Auch in Duisburg. „Eine Milliarde Euro für 18 Schulen“ wolle die Stadt bis 2030 investieren, meldete die Westfälische Allgemeine Zeitung im Dezember 2023. Zwei neue Gesamtschulen werden in der Ruhrmetropole errichtet. An fünf Grundschulen stehen Erweiterungsbauten vor dem Abschluss. An weiteren Schulen laufen umfangreiche Sanierungsarbeiten. Im Kita-Bereich seien 25 Erweiterungen oder Neubauten bis 2028/29 geplant, teilt die städtische Pressestelle mit.
Doch der Aufholbedarf ist gewaltig. Bundesweit beträgt der kommunale Investitionsrückstau bei den Schulgebäuden 54,8 Milliarden Euro. Kindertagesstätten schlagen mit einem Rückstau von 12,7 Milliarden Euro zu Buche. So steht es im „Kommunalpanel 2024“, das die öffentlich-rechtliche Bank Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) veröffentlichte. Erschwert werden die Aufholbemühungen der Kommunen laut KfW-Untersuchung durch „Liefer- und Kapazitätsengpässe der Bauwirtschaft“ sowie durch „Personalmangel in der Bauverwaltung“.
„Es hapert an der Planung“
Auf dem Gelände der Alfred-Adler-Schule reißen derweil Bauarbeiter Dachpappe vom Dach des maroden Atriums herunter. Ein Kleinbagger ist im Einsatz. Handwerker arbeiten in einem stillgelegten Schultrakt. Der Startschuss für die Sanierung fiel im Januar 2023. Nun sollen hier moderne Unterrichtsräume entstehen, außerdem ein überdachter Gang aus hellem Holz für die Verbindung zum Hauptgebäude. „Ich bin ja froh darüber“, sagt Schulleiter Marienfeld. „Aber es hapert an der Planung.“ Immer wieder stockten die Bauarbeiten.
Die Alfred-Adler-Schule ist eine Förderschule, spezialisiert auf emotionale und soziale Entwicklung. 220 Mädchen und Jungen lernen hier – doppelt so viele wie 2016. „Wir haben Kinder mit komplexen Verhaltensauffälligkeiten“, betont der Schulleiter. Ihnen gerecht zu werden, wird durch Bauarbeiten bei laufendem Schulbetrieb nicht einfacher. „Wir hatten Schüler, die auf dem Bagger saßen“, erzählt Marienfeld. „Der Bauzaun war nicht geschlossen.“ Weitere Einschränkungen: Der Sportplatz fällt während der Bauarbeiten weg – dort befinden sich jetzt die 17 Container für den Unterricht. Differenzierungs- und Fachräume sind größtenteils gesperrt.
„Wir müssen heute anfangen zu bauen, damit wir 2026 fertig sind.“ (Sandra Pietschmann)
Wir wechseln den Standort. Die Stadt Mettmann bei Düsseldorf. Knapp 40.000 Einwohner. In der Oberstadt schmale Gassen, gesäumt von gepflegten Altbauten mit grauer Schieferfassade. Die Region ist deutlich besser aufgestellt als das vom Strukturwandel gebeutelte Duisburg. So liegt die Arbeitslosigkeit im Kreis Mettmann – die Stadt Mettmann wird nicht extra ausgewiesen – im Juni 2024 bei 6,9 Prozent, in Duisburg sind es 12,5 Prozent. Die Kaufkraftkennziffer des Kreises Mettmann beträgt 110, gegenüber 80 in der Ruhrgebietsstadt.
Doch auch in der Stadt Mettmann gibt es Schulen mit Raumnot, auch hier herrscht Sanierungsbedarf. Zum Beispiel an der Katholischen Grundschule in der Neanderstraße. Während im Flachbau der Unterricht läuft, lärmt nebenan eine Tief- und Straßenbaufirma. Ein Arbeiter steuert eine Fräsmaschine, die den Asphalt des Schulhofs aufschneidet. Vorbereitende Arbeiten, damit Container aufgestellt werden können – als Ersatzraum für dringend benötigte Klassenzimmer plus Mensa und Mehrzweckraum.
Die Sanierung der Schulen zu stemmen, stellt Mettmann vor Herausforderungen. Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer seien überschaubar, berichtet Bürgermeisterin Sandra Pietschmann (parteilos). „Wir sind Kreisstadt, bei uns gibt es viele Verwaltungsgebäude, viel Grün, aber wenig Industriebetriebe.“ Seit 2009 habe die Stadt „fast durchgehend ein negatives Jahresergebnis“, sagt Pietschmann. Sie sieht zudem ein grundsätzliches Problem: „Das Konnexitätsprinzip wird verletzt.“ Das bedeutet: Bund und Land übertragen den Kommunen immer mehr Aufgaben, ohne für deren vollständige Finanzierung zu sorgen. Sie nennt ein Beispiel: Ab 2026 haben Eltern für Grundschulkinder einen Rechtsanspruch auf einen Platz im offenen Ganztag. Folge: „Wir müssen heute anfangen zu bauen, damit wir 2026 fertig sind.“
Es fehlen Räume und Personal
Die GEW Nordrhein-Westfalen (NRW) schätzt, dass ab 2026 allein im Land 100.000 bis 150.000 Kinder zusätzlich zu bilden und zu betreuen sind. Eine Riesenaufgabe für die Kommunen, auch für Mettmann. Zwar stelle die Bundesregierung für den Ganztagsausbau 3,5 Milliarden Euro bereit, auch vom Land NRW kämen Fördergelder. „Doch das reicht hinten und vorne nicht“, unterstreicht Bürgermeisterin Pietschmann.
In Mettmann fehlen für den offenen Ganztag nicht nur Räume, es fehlt auch Personal. Helfen will der Ortsverband des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB). Seit Beginn des Schuljahres 2023/24 habe es beim Nachmittagsangebot „extremen Zulauf von Grundschülerinnen und -schülern“ gegeben. Das berichtet Angela Mäder, Geschäftsführerin des DKSB in Mettmann. Der Grund: Im offenen Ganztag der städtischen Schulen gebe es „zu wenig Erzieherinnen und Erzieher“. Die Gruppen seien deshalb groß.
Beim DKSB hingegen kümmere sich in der Regel eine Person um fünf Kinder. Das stoße bei den Eltern auf Zustimmung. Aktuell betreut die gemeinnützige Organisation nachmittags 50 Kinder und Jugendliche der Klassen 1 bis 10. Pietschmann hingegen erklärt die unterschiedlichen Gruppengrößen damit, dass der DKSB andere Aufgaben erfülle als die Nachmittagsbetreuung an städtischen Schulen. „Die Angebote unterscheiden sich grundsätzlich.“ So kümmere sich der DKSB vor allem um Kinder, die in armen Familien aufwachsen.
„Eine Hürde lautet: Ehrenamtliche finden.“ (Jürgen Winkelmann)
Der DKSB Mettmann engagiert sich auch an der städtischen Katholischen Grundschule in der Neanderstraße. Er sorgt für Einzelförderung nach Vorgaben der Lehrkräfte, außerdem für Leseförderung in der Kleingruppe. Die leisten ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DKSB. Lehrerin Viviane Surkau lobt das DKSB-Angebot. Leseförderung für ausgesuchte Schülerinnen und Schüler, „das schafft man im Klassenverband nicht“. Und den Kindern gefalle es, „weil sie in einer kleinen Gruppe viel mehr Aufmerksamkeit bekommen“.
Ob der DKSB in Mettmann seine Bildungsangebote aufrechterhalten kann, ist jedoch fraglich. „Eine Hürde lautet: Ehrenamtliche finden“, betont Jürgen Winkelmann, Vorsitzender des DKSB Mettmann. Eine weitere Hürde seien die Finanzen, um die Arbeit des Ortsverbandes, einschließlich der Gehälter für die Teilzeitkräfte, zu bezahlen. „Ein Drittel unseres Etats sind Zuschüsse der Stadt“, erläutert Winkelmann. Doch Mettmann sei in der Haushaltssicherung. Möglich, dass die Bezirksregierung der Stadt künftig vorschreibe, ihre freiwilligen Zahlungen an den DKSB zu kürzen. „Für uns eine Existenzfrage“, erklärt Winkelmann.
„Wir haben noch keinen Tag in der vollen Betreuung erlebt.“ (Vater)
Wir schauen erneut nach Duisburg. Ein Mittwochabend im Café Museum, nicht weit vom Hauptbahnhof. Langsam füllt sich der Versammlungsraum. „Notfallpläne, Betreuungsausfall, Personalmangel in der Kita … und was nun?“, heißt es im Einladungs-Flyer. Eltern und Kita-Beschäftigte sind gekommen, um mit Vertretern aus der Duisburger Politik und Verwaltung zu diskutieren. Ein Vater berichtet: Sein Sohn besuche seit August 2023 eine Duisburger Kita. „Wir haben noch keinen Tag in der vollen Betreuung erlebt.“ Anstatt zu arbeiten, müsse er immer wieder zu Hause bleiben. „Inzwischen habe ich 150 Minusstunden angesammelt“, sagt der Mann. „Mein Chef findet das nicht mehr lustig.“
Auch Kita-Mutter Eva Hans ist stinksauer. Sie erklärt, dass Kitas einen Bildungsauftrag haben – und daran scheitern. Den Eltern sei deshalb klar, „wie scheiße die nächste PISA-Studie ausfallen wird“. Michael Letsch gehört zum Vorstand der Interessenvertretung der Duisburger Kita-Eltern. Er berichtet: Im zurückliegenden Kita-Jahr waren 67 von 80 städtischen Einrichtungen in Duisburg gezwungen, ihre Betreuungszeiten zu reduzieren. Fünf Kitas reduzierten an 50 Tagen oder mehr. „Das sind enorme Zahlen“, unterstreicht Letsch.
Paul Bischof, der für Kinder und Familien zuständige Beigeordnete der Stadt Duisburg, stellt sich im Café Museum den Vorwürfen. Er betont, dass Duisburg zusätzliche Kitas baue. Außerdem unternehme die Stadt viel, um weitere Fachkräfte zu gewinnen und kurzfristigen Personalausfall mit Hilfe eines Springer-Pools auszugleichen. Die Herausforderungen seien groß. „Duisburg hat ein Plus von 8 Prozent bei den Geburten.“ Und: „Wir müssen in den Kitas immer mehr Kinder mit besonderem Problembedarf aufnehmen.“ Selbst erfahrene Erzieherinnen sagten ihm: „Diese zusätzliche Belastung bringt uns an unsere Grenzen.“
„Das sind Fachleute – die gehören ans Kind.“ (Eva Hans)
Was tun? Kita-Mutter Hans beklagt, dass die Erzieherinnen so viel Verwaltungsarbeit zu erledigen hätten und häufig Telefongespräche führen müssten: „Das sind Fachleute – die gehören ans Kind.“ Schnell sind die Anwesenden bei der Frage, wie sich das Personal entlasten lässt. Sollen Kitas für Quereinsteigerinnen und -einsteiger geöffnet werden? Zu Wort meldet sich Marcel Fischell, Geschäftsführer des Evangelischen Bildungswerkes, das in Duisburg 16 Kitas betreibt. Er betont: Die Kinderbetreuung habe sich in den vergangenen Jahren „qualitativ deutlich weiterentwickelt, aber aufgrund fehlender Fachkräfte werden wir nicht mehr denselben Umfang an Betreuungszeiten bei gleicher pädagogischer Qualität halten können“. Immer mehr Vorgaben für das Personal zu formulieren, „das klappt nicht“.
„Deprofessionalisierung im Bildungsbereich ist kritisch zu sehen.“ (Prof. Marcel Helbig)
Ähnlich argumentiert der dritte Bürgermeister Sebastian Ritter (Bündnis 90/Die Grünen). Er schlägt vor, junge Menschen mit mittlerem Bildungsabschluss, die wegen mangelnder Sprachkenntnisse oder Bildungsferne noch nicht für eine Ausbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher infrage kämen, an Kitas als Aushilfen einzusetzen. „Begleitende Bildungsangebote könnten sie dann ausbildungsfähig machen“, erklärt Ritter, der als Berufsschullehrer arbeitet, auf Nachfrage der E&W. „Mittelfristig könnten so alle profitieren.“
Die Akzeptanz, Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger zuzulassen, steigt. „Deprofessionalisierung im Bildungsbereich ist kritisch zu sehen“, betont Professor Marcel Helbig, Sozialwissenschaftler am Leibnitz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. „Rein pragmatisch bleibt uns aber kaum eine andere Wahl.“ Vielerorts sei dies aktuell die einzige Möglichkeit, um das Bildungsangebot aufrechtzuerhalten. Doch damit wachse die Gefahr, dass die gesellschaftliche Spaltung zunimmt, betont Helbig. „Problematisch ist, dass es zu einer Ballung von Seiteneinsteigern an unbeliebten Standorten kommt, etwa in sozialen Brennpunkten oder im ländlichen Raum.“ Keine schönen Aussichten für die „Bildungsrepublik Deutschland“.