Zum Inhalt springen

Das Gesamtpaket ist entscheidend

Die Herausgeberinnen der Studie „Die Bildungssysteme der erfolgreichsten PISA-Länder“ haben festgestellt: Spezielle Förderung ist in den Spitzennationen der Normal- und nicht der Sonderfall. Nirgends gebe es ein Förderschulsystem wie in Deutschland.

Sechs PISA-Studien hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seit dem Jahr 2000 veröffentlicht. Schwerpunkte waren Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Vergleicht man alle Erhebungen, waren 15-Jährige in fünf Ländern immer an der Spitze: China, Finnland, Japan, Kanada und Südkorea. Was ist deren Erfolgsrezept? Ein Interview mit Doris Wittek, Mitherausgeberin der Studie „Die Bildungssysteme der erfolgreichsten PISA-Länder“.

  • E&W: Seit dem PISA-Schock im Jahr 2000 hält sich in Deutschland der Eindruck: Andere Länder können Bildung viel besser. Bestätigt Ihre Untersuchung das?

Doris Wittek: Ich würde es so sagen: Wir haben Länder kennengelernt, die geschickt darin sind, Schülerinnen und Schüler für ein gutes PISA-Abschneiden auszubilden. Darüber, welche Inhalte transportiert werden oder ob Schülerinnen und Schüler gern lernen, sagen diese Ergebnisse dort so wenig aus wie in Deutschland.

  • E&W: Warum haben Sie dann einen so aufwändigen Vergleich betrieben?

Wittek: Auch wenn es Einschränkungen gibt, ist es interessant zu analysieren, wie Länder Rahmenbedingungen schaffen, unter denen Lernende sehr erfolgreich PISA-Aufgaben bewältigen. Nicht mehr – und nicht weniger.

  • E&W: Erfolgsrezepte, von denen man immer wieder hört, sind Individualisierung und Ganztagsschule.

Wittek: Ja, allerdings ist vieles von dem, was in Deutschland kolportiert wird, eher dem Bestreben geschuldet, sich das Passende für die eigene Agenda auszusuchen, nach dem Motto: „Ich hätte gern diese oder jene Bildungsreform“ – und begründe das mit: „Das macht Kanada oder Finnland auch so.“ So einfach ist es aber nicht; aus einzelnen Befunden lassen sich keine Kausalketten erschließen. Und so mancher medial vermittelte Eindruck stimmt bei genauerem Hinsehen nicht.

  • E&W: Zum Beispiel?

Wittek: Ich selbst war mehrfach in Finnland, bereits lange vor der Recherche für das aktuelle Buch. Vorort stellte ich recht konsterniert fest: Es wird hier nicht so unterrichtet, wie man es sich in Deutschland erzählt. Zumeist findet kein individualisierter Unterricht statt, in dem jedes Kind passend zu seinem jeweiligen Kenntnis- und Entwicklungsstand beschult wird.

  • E&W: Sondern?

Wittek: Der Unterricht ist zu fast 90 Prozent lehrerzentriert, zudem wird finnlandweit mit den gleichen Schulbüchern unterrichtet. Das wird allerdings mit ausgeprägten Fördermaßnahmen kombiniert – die, das ist ganz wichtig, nicht mit dem Stigma „Schwäche“ verknüpft sind. Wer in Mathe nicht mitkommt, dem gibt man genauso selbstverständlich eine Pädagogin oder einen Pädagogen zur Seite wie einem Mitschüler, der besonders gut im Finnischen ist und deshalb besonders gefördert wird. Das ist individuelle Förderung – aber eine andere, als wir sie uns hierzulande vorstellen.

  • E&W: Und in den anderen erfolgreichen Ländern?

Wittek: Individuelle Förderung, die dem Grundgedanken „Jedes Kind kann etwas erreichen“ folgt, haben wir tatsächlich durchgehend entdeckt. Anders gesagt: Überall wird, unabhängig von der Herkunft, jedem Kind signalisiert: „Du kannst etwas!“ In einem zweiten Schritt wird geschaut, was das einzelne Kind oder der Jugendliche benötigt. Man könnte auch sagen: Spezielle Förderung ist der Normal- und nicht der Sonderfall. Das erklärt auch, warum es nirgends ein so ausgebautes Förderschulsystem gibt wie in Deutschland.

  • E&W: Haben Sie weitere Gemeinsamkeiten gefunden?

Wittek: Ja. Alle fünf Länder machen die Bildungspolitik, für die sie sich entschieden haben, kontinuierlich über lange Zeiträume hinweg; in großer Ruhe und Verlässlichkeit. Ruckartige Reformen gab es ebenso wenig wie direkte Folgen eines Regierungswechsels. Außerdem fiel uns auf: Alle fünf Länder messen Bildung eine sehr große Bedeutung bei, von Seiten des Staates im Sinne einer gesellschaftlichen Kohäsion, aber auch von Elternseite.

  • E&W: Nun haben Sie gleich drei Länder in Asien untersucht, die dafür bekannt sind, Kinder regelrecht zu trimmen: China, Japan und Südkorea.

Wittek: Kultur und Kontext spielen eine Rolle – deswegen haben wir auch die geografische, historische, kulturelle Geschichte eines jeden Landes erzählt. Und tatsächlich findet sich unter Schülerinnen und Schülern in Asien eine ganz andere durch den Konfuzianismus geprägte Grundhaltung, nach dem Motto: „Wir haben von unseren Eltern das Geschenk des Lebens bekommen – mit unserem Engagement zeigen wir ihnen, dass wir das wertschätzen.“

  • E&W: Gibt es etwas, was die Arbeit der Pädagoginnen und Pädagogen verbindet?

Wittek: In der Tendenz haben wir einen höheren Grad an Zusammenarbeit erlebt; von Teamarbeit bis zur regelrechten Ko-Konstruktion von Unterricht: In Japan ist es zum Beispiel üblich, dass Lehrerinnen und Lehrer regelmäßig gemeinsam Unterrichtseinheiten entwickeln.

  • E&W: Dafür braucht es Zeit – und ein entsprechendes Arbeitszeitmodell.

Wittek: In allen von uns besuchten Ländern ist Arbeitszeit außerhalb des Klassenzimmers vorgesehen. In China zum Beispiel unterrichten Lehrpersonen 15 Stunden – die übrige Zeit haben sie für Kooperation sowie für Elterngespräche zur Verfügung. Eine intensive Elternarbeit ist übrigens auch etwas, was die fünf Länder eint. Dabei fiel auf, dass Eltern nicht wie in Deutschland in Frage stellen, wie Pädagoginnen und Pädagogen im Unterricht arbeiten. Vermutlich hat das damit zu tun, dass in diesen Ländern Lehrenden als einschlägigen Expertinnen und Experten auch mehr Vertrauen entgegengebracht wird, weil Bildung einen größeren Stellenwert hat.

  • E&W: Was könnte sich Deutschland abschauen?

Wittek: Entscheidend ist ein Gesamtpaket. Wichtig ist, für das ganze Land ein schlüssiges Konzept zu schaffen, innerhalb dessen alle Beteiligten auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, das auch nach Wahlen noch gilt. Schulpolitik darf sich nicht wie eine Fahne im Wind bewegen – die sich immer nach dem richtet, der sie gerade verantwortet.

Doris Wittek, Juniorprofessorin für „Lehrerprofessionalität und Lehrerbildungsforschung“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg