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Das didaktische Desaster

Wirtschaftsverbände begründen die massenhafte Verbreitung eigener Unterrichtsmaterialien sowie ihre Forderung nach einem Unterrichtsfach Wirtschaft mit dem Vorwurf, deutsche Schulbücher seien marktkritisch und unternehmensfeindlich. Dabei hat das renommierte Georg-Eckert-Institut in seiner vergleichenden europäischen Schulbuchstudie genau das Gegenteil festgestellt. Nach einem kritischen Artikel der ZEIT ist die Debatte nun neu entbrannt.

„Die deutschen Schulbücher zeichnen ein erstaunlich differenziertes Bild der Wirtschaft und unternehmerischer Tätigkeit. Eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Unternehmertum und Marktwirtschaft kann ihnen nicht attestiert werden“, so das deutliche Fazit im Abschlussbericht der Studie „Unternehmertum und Wirtschaft in europäischen Schulbüchern“ des Georg-Eckert-Instituts. Der von Seiten der Wirtschaft erhobene Vorwurf, deutsche Schulbücher blendeten wirtschaftliche Realitäten und unternehmerische Perspektiven aus, kann demnach nicht bestätigt werden.

Weiter ist im Fazit der Studie nachzulesen, „die Schulbücher sehen unternehmerisches und bloß marktwirtschaftliches Handeln nicht als höchstes Gut an. Sie fordern die Schülerinnen und Schüler zu Eigeninitiative und Engagement in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auf. Der Einzelne wird nicht primär als künftiger Arbeitnehmer oder Unternehmer gesehen, sondern eher als sozial verantwortliches Individuum, das sich im Sinne der eigenen wie der gemeinschaftlichen Interessen um Wirtschaft, Mitmenschen und Umwelt kümmern muss“.

Mitbestimmungs-Hefte agitieren gegen Betriebsräte

Diese Darstellung entspricht zwar den Vorgaben des Beutelsbacher Konsenses aus dem Jahr 1976, der politische Indoktrination von Schülerinnen und Schülern verhindern soll, in dem er eine ausgewogene, neutral vermittelte Darstellung politischer Inhalte vorschreibt und die Schülerinnen und Schüler dazu ermutigt, eine individuelle Meinung zu entwickeln. Den Wirtschaftsverbänden ist eine derartige Darstellung offenbar jedoch zu marktkritisch. Ihre eigens produzierten Gratis-Unterrichtsmaterialien sollen daher Abhilfe schaffen.

Helmut E. Klein, der am Institut der deutschen Wirtschaft im Bereich schulische Bildung arbeitet, begründet das Engagement der Lobbyisten nicht nur mit der vermeintlichen Einseitigkeit staatlicher Schulbücher, sondern auch mit der fehlenden ökonomischen Urteils- und Handlungskompetenz der Jugendlichen, schlechten Lehrplänen in den Fächern Politik, Sozialwissenschaften und Arbeitslehre und fehlender Fachkompetenz der Lehrkräfte. Die Unterrichtsmaterialien seines Instituts hingegen schafften Kompetenz und kompensierten die Nachlässigkeiten der Bildungspolitik, wie aus einem Beitrag Kleins in der ZEIT (Nr. 42/12) zu entnehmen ist.

Kleins Kommentar ist eine Replik auf den zuvor in der ZEIT erschienen Artikel „Gehirnwäsche“ von Sebastian Kretz (ZEIT Nr. 39/12). Kretz hatte insbesondere die Materialien des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) unter die Lupe genommen und dort eine „neoliberale Schlagseite“ festgestellt. So richte sich beispielsweise ein Heft der Reihe „Thema Wirtschaft“ mit dem Schwerpunkt Mitbestimmung klar gegen Betriebsräte: Diese seien, so die IW-Publikation, „unbestritten in der Lage, Betriebsabläufe empfindlich zu stören.“ Als wertvoll bezeichneten die Autoren die Arbeit der Betriebsräte laut Kretz nur dann, wenn sie dem „wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens dient“ und „die Beteiligten nicht im Traum daran denken, Punkt für Punkt die Paragraphen des Betriebsverfassungsgesetzes umzusetzen“.

Entwicklung ist ein „didaktisches Desaster“

Kretz prangert in seinem Artikel an, dass es – während die meisten Bundesländer neue Schulbücher einer gründlichen Prüfung unterziehen – für privat hergestelltes Material keine Qualitätskontrolle gibt. Hinzu komme, dass die offiziellen Schulbücher oftmals veraltet seien und für neue das Geld fehle. „Wollen Lehrer ihren Schülern etwas Finanzkrise oder Euro-Rettung erklären, müssen sie improvisieren“, bringt Kretz das Dilemma auf den Punkt. Den Wirtschaftsverbänden öffne das die Chance, die Schülerinnen und Schüler „wirtschaftspolitisch einzunorden“, macht Jeanette Klauza vom DGB deutlich. Die Hefte höben einseitig die Vorzüge eines schlanken Staates hervor und stellten das Sozialsystem als überfordert dar, kritisiert Klauza in dem ZEIT-Artikel. Recht bekommt sie von Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften der Uni Frankfurt, der die aktuelle Entwicklung als „didaktisches Desaster“ bezeichnet.

Aus Sicht von Prof. Dr. Bettina Zurstrassen, ebenfalls Professorin für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld, ist Schulbuchkritik wie sie das Institut der deutschen Wirtschaft äußert als klassische wirtschaftsliberale Kritik an staatlicher Regulierung zu bewerten. Diese ziele inzwischen auch verstärkt auf die Bildungsinhalte im gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht ab. Der öffentlich-mediale Druck auf die Bildungspolitik zur Einführung eines Unterrichtsfaches Wirtschaft solle erhöht werden, stellt Zurstrassen fest. Dabei scheue IW-Mann Klein in seinem Beitrag für die ZEIT auch nicht davor zurück, die Forschungsergebnisse unabhängiger Forschungsinstitute zu verfälschen.

Zurstrassen betont, wie aufwändig das Zulassungsverfahren ist, das Schulbücher für den gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht durchlaufen müssen. „Im Gegensatz zu Unternehmen verfolgt die Bildungspolitik nicht unternehmerische Einzelinteressen, sondern hat die politische und gesellschaftliche Pluralität sowie letztlich auch das Gemeinwohl im Blick und zielt auf die gesellschaftliche Mündigkeit der Lernenden“, ist die Expertin überzeugt. Unterrichtmaterialien der Wirtschaftsverbände hingegen sind ihrer Ansicht nach ein Instrument zu Eliminierung der kritischen, sozial verantwortlichen Bürgerinnen und Bürger.

Kritische Ansätze aus den Berufskollegs bereits verbannt

Wie ein Wirtschafts- und Politikunterricht aussieht, der den Vorstellungen der Arbeitgeberverbände entspricht, lässt sich laut Zurstrassen gut am Berufskolleg beobachten. Dort würden die Unterrichtsinhalte in der Lernfelddidaktik inzwischen dominant aus der Perspektive der Arbeitgeber definiert, deren Verbände in den Curriculumkommissionen privilegiert Gehör fänden. „Betriebliche Mitbestimmung, die Rolle der Gewerkschaft in der Gesellschaft oder kritische wirtschaftstheoretische Ansätze werden in den Lehrplänen nicht mehr aufgeführt oder an den Rand gedrängt“, bemängelt die Wissenschaftler. Denn: „Kritikfähige Bürgerinnen und Bürger sind ein Störfaktor in der marktradikalen Wirtschaftswelt des Herrn Klein.“