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Krise der Demokratie

Das banale Nichts

Pauschale Absage an etablierte Werte: Die Querdenker-Bewegung ist brandgefährlich, nicht nur für die Gesundheit ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger, sondern auch für die Demokratie, denn ihr gemeinsamer Nenner ist der politische Nihilismus.

Seit Beginn der Pandemie gehen die unterschiedlichsten Menschen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung auf die Straße. (Foto: Pixabay / CC0)

Querdenken ist zum Markenzeichen einer Auflehnung geworden, die als ,Bewegung‘ nach den Regeln des Marketing von Werbestrategen organisiert ist, die ihre Impulse von Populisten und Verschwörungsideologen, von Identitären und ,Reichsbürgern‘, von Rechtsextremen, von kreidefressenden AfD-Politikern im Schafspelz, von Sektierern und Narren erhält. Provokation und Usurpation sind die Methoden, Ziel ist die Destruktion von Normen und Regeln, die friedlichem Miteinander und vernünftigem Interessenausgleich in Staat und Gesellschaft dienen. Ursachen sind die Verweigerung von Solidarität und Toleranz und die kollektive Entfaltung unbeschränkter Egozentrik.“ So bilanziert der Historiker und ehemalige Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, einen von ihm im Metropol-Verlag herausgegebenen Sammelband, in dem ausgewiesene Szenekenner die verschiedenen Akteursgruppen in detaillierten Fallstudien untersuchen.

Was hält die Querdenker zusammen? Ihre Spannbreite und weltanschauliche Heterogenität hätte kaum vermuten lassen, dass sie im Aufstand gegen die Corona-Maßnahmen ein „sozialmoralisches Milieu“ bilden könnten. So hatte der Soziologe M. Rainer Lepsius die weltanschaulich gebundenen Wählermilieus der Kaiserzeit genannt. Dieses Milieu hingegen ist nicht mehr durch gemeinsame Überzeugungen, Wählermobilisierung oder wirtschaftliche Interessen verbunden, sondern durch ein konvergentes Nein!

Personen, die sich unter dem einmal zur Selbstbeschreibung und als Kompliment verstehbaren Etikett des „Querdenkers“ versammeln, entstammen anthroposophisch-esoterischen Zirkeln, lebensreformerischen und grün-alternativen Gruppen, Rechtsparteien, christlich-fundamentalistischen Kreisen, Protestbewegungen gegen urban-industrielle Großprojekte und atomare Aufrüstung und nicht zuletzt Mutanten der DDR-Bürgerbewegung via Montagsdemos und Pegida-Aufmärschen. Was bildet da „die Durchdringung von Umgebenen und Umgebenden, deren wechselseitige Bedingtheit“, wie die Wissenschaftshistorikerin Christina Wessely einmal den Milieubegriff allgemeiner definiert hat?

Die durchweg geringe Kohäsion der Einzelakteure lässt an den von dem US-Soziologen David Riesman beschriebenen Aufstand der „einsamen Masse“ außengeleiteter Individuen denken.

„Sammelsurium egomaner Freiheitsrhetorik“

Impf-Skepsis und -Verweigerung vereinen ansonsten fernstehende Gruppierungen in einer lachhaft übersteigerten Notwehrhaltung: Das drücken geschmacklose NS-Bezüge wie der gelbe Stern und die Inanspruchnahme des Widerstandsrechts aus. Bei der Beurteilung der deutschen „Querdenker“-Proteste könnte man angesichts der nennenswerten Beteiligung und logistischen Unterstützung durch Identitäre, Reichsbürger, Nationalsozialisten und Aktivisten des AfD-Flügels annehmen, hier formiere sich eine „braune APO“ mit Gewaltneigung. Die Einordnung auf der Rechts-Links-Achse trifft jedoch auf das Gros der „Querdenker“ nicht zu, die schon im Titel eher an den antiautoritären Nonkonformismus anschließen, der einmal die APO (Außerparlamentarische Opposition) der 1960er-Jahre angetrieben und danach das „grün-alternative“ Milieu bewegt hat.

Mit deren Zielsetzungen – einer sozialistischen Revolution und im Ergebnis einer von dem Soziologen Jürgen Habermas so bezeichneten „Fundamentalliberalisierung“ der Bundesrepublik beziehungsweise mit der Fundamentalkritik des industriellen Wachstums – haben die heutigen Querdenker rein gar nichts gemein. Offenbar hat sich bei ihnen aber der antiautoritäre Reflex („Keine Macht für Niemand“) verselbstständigt und wird das aus der ökologischen Krise folgende Pathos der Dringlichkeit („Menschheit vor der Selbstauslöschung“) auf ganz triviale Ziele verlagert, etwa auf die Ablehnung des risikolosen, nach allen Gesetzen der Vernunft und des Mitgefühls gebotenen Impfens, die Ablehnung höherer Rundfunkgebühren und dergleichen. Bei Querdenker-Demos mitgeführte Plakate ergeben ein Sammelsurium egomaner Freiheitsrhetorik, die sich aus dem Gesellschaftsvertrag verabschiedet.

Es geht also nicht darum, etwas zu bewirken, gar eine andere Gesellschaft zu begründen (und sei es eine neo-faschistische); es geht um die Ausschaltung aller wahrheitsverbürgenden Institutionen wie der Wissenschaft, der unabhängigen Medien und der Gerichte, letztlich um einen Angriff auf den demokratischen Staat und dessen repräsentative Organe, die ohnehin an Vertrauen verlieren. Eine allgemeine Nervosität angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart kommt dem zu Hilfe, ubiquitäre (überall verbreitete, Anm. d. Red.) Ängste formen einen „Zeitgeist“. Dieser erinnert an die von dem Philosophen Georg Lukács thematisierte „Zerstörung der Vernunft“, die den völkischen Bewegungen zupasskam, oder an den, so der US-Historiker Richard Hofstaedter,„paranoiden Stil“ der McCarthy-Ära in den USA, dessen Familienähnlichkeit mit dem Antisemitismus unverkennbar ist.

Politischer Nihilismus

Querdenker verfolgen nicht die Absicht, eine Autokratie zu schaffen, kalkulieren aber durchaus mit der Möglichkeit der Entstehung einer solchen. Dass sich bei ihnen radikale Rechte und Linke einfinden, fügt sich nicht zum „Hufeisen“ der Extremismustheorie oder einer neuen „Querfront“; diese Protestbewegung spiegelt die Gesellschaft der Singularitäten und einen „Extremismus der Mitte“. Anders als bei jüngeren Protestbewegungen für die Bändigung des Finanzkapitals (Occupy), die Rettung des Planeten (Fridays for Future), die Gleichstellung der Frauen (Women‘s Lib), die Anerkennung sexueller und ethnischer Minderheiten (Black Lives Matter und LGBQ+) oder deren Äquivalente in früheren sozialen Bewegungen geht es um die trotzige Behauptung individuellen Ungehorsams.

Der gemeinsame Nenner der aktuellen Protestlandschaft ist demnach: politischer Nihilismus. Das hat nicht die Fallhöhe des Philosophen Friedrich Nietzsche, nimmt aber eine pessimistische Weltansicht an, die in seinen Worten „nicht bloß Nein sagt, Nein will, sondern – schrecklich zu denken! – Nein tut“. Die pauschale Absage an etablierte Werte negiert alle Autoritäten (außer den Scharlatanen der Szene), vertraut keiner Institution (außer der eigenen Filterblase) und lässt keine Repräsentation zu, außer der Klagemauer der angeblich unterdrückten Minderheit. Als ein Patchwork der Minderheiten sind die (zahlenmäßig wenigen) Querdenker brandgefährlich, nicht nur für die Gesundheit ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger, sondern auch für die Demokratie. 

Der Text ist die leicht gekürzte Fassung eines in der F.A.Z. erschienenen Artikels (18. Dezember 2021, Feuilleton, Seite 13). © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.