Gleichstellung
Damit sich endlich etwas ändert
Wie steht es 2025 um die Gleichstellung im Land? Was hat sich in den vergangenen Jahrzehnten getan, welche Fortschritte wurden erreicht, wo hakt es noch? Eine Reise zu vier Frauen aus Ost und West.
„Eine Apfelschnitzchen schneidende Bastel-Mutti war ich nie.“
Uta Schneider-Grasmück, Gymnasiallehrerin und Beauftragte für Chancengleichheit in Tübingen
Uta Schneider-Grasmück ist schon erwachsen, da wird ihr klar: Die klassische Vorstellung von Familie hat sie mehr geprägt, als sie immer dachte. Ihre Mutter kümmerte sich um Kinder und Haushalt, der Vater, ein Maschinenbauingenieur bei Daimler, verdiente das Geld. Denn welche Spielräume gab es schon für Mütter und Väter in den 1970er-, 1980er-Jahren in Gaggenau, einer Kleinstadt in der Nähe von Baden-Baden? Kita und Schule gab es nur vormittags und das nicht verlässlich. Und eine Babysitterin organisieren? Auf dem Land kaum möglich.
Dennoch sind die Rollenbilder in Schneider-Grasmücks Familie nicht nur klassisch. Der Vater ermuntert seine Tochter: „Ein Mädle kann alles.“ Der Vater begleitet sie auch zu ihrem Sport: Skislalom. Sie ist das einzige Mädchen im Team, „da habe ich gelernt: Mädchen können genauso schnell den Berg runter wie die Jungs“. Das Selbstbewusstsein trägt Schneider-Grasmück mit hennarotem Haar nach außen, in der Schule gilt sie „als Emanze“, feministisch, politisch meinungsstark. Das ist sie bis heute. Und doch: Nach der Familiengründung geht sie „automatisch“, wie sie sagt, in Elternzeit, arbeitet danach Teilzeit weiter. „Das war bei allen hier so.“ Trotzdem ist es „eine harte Zeit“ für Schneider-Grasmück, „eine Apfelschnitzchen schneidende Bastel-Mutti war ich nie“.
„Es kann doch nicht sein, dass Leitungsstellen überwiegend von Männern besetzt sind, obwohl viel mehr Frauen in Schulen arbeiten.“
Seit 2024 arbeitet Schneider-Grasmück Vollzeit, halb im Gymnasium, halb als Beauftragte für Chancengleichheit (BfC) für Schulen am Regierungspräsidium Tübingen. „Es kann doch nicht sein, dass Leitungsstellen überwiegend von Männern besetzt sind, obwohl viel mehr Frauen in Schulen arbeiten.“ Sie ermutigt geeignete Kandidatinnen: Bewerbt euch, ihr schafft das. Unterstützt sie, wenn sie Chefinnen in Teilzeit werden wollen. „Natürlich geht das, lasst es uns gut planen.“ Bei ihrer Arbeit sieht sie auch, wie verbreitet heute noch sexuelle Übergriffe auf Frauen im Job sind, manchmal als Missbrauch, oft als kleine Grenzüberschreitungen im Alltag. „Eine Beschwerdestelle für Lehrerinnen – das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.“
„Gleichstellung ist eine Schnecke.“
Elke Hannack, stellvertretende DGB-Vorsitzende
Mit dem Aufzug geht es hoch in den elften Stock. „Hallo, willkommen.“ Elke Hannack, graue Kurzhaarfrisur, rote Brille, anpackendes Lachen, bittet in ihr lichtdurchflutetes Reich. Seit 13 Jahren tritt Hannack dafür ein, dass sich etwas ändert: Gender Pay Gap, Gender Care Gap, Gender Pension Gap. Sie sagt: „Gleichstellung ist eine Schnecke.“ Es brauche einen „Akt des Widerstands, auch in den Gewerkschaften ist das nicht immer leicht“.
Sich unter Männern durchzusetzen, hat Hannack früh gelernt. Der Vater ist Polizist, er bringt ihr „alles bei, was im Leben wichtig ist“. Autos reparieren, Motoren tauschen, Elektrik verlegen. Die Mutter ist Verkäuferin in einem Supermarkt, zeigt den Brüdern Kochen und Putzen. „Wir waren zwei Jungs, drei Mädchen, alle mussten alles machen.“ Ungewöhnlich im Münsterland der 1970er-Jahre.
Hannack selbst fühlt sich in Jungenkreisen wohl, liebt den Bolzplatz. Die Schule fällt ihr leicht, sie ist Meinungsführerin, Schulsprecherin. „Dass viele Familien andere Rollenbilder im Kopf hatten, fand ich doof.“ Auch ihre Eltern bekommen die alten Vorstellungen zu spüren. Als die Mutter in der Ortssparkasse einen Kredit beantragt, ruft der Filialleiter den Vater an: Wir brauchen Ihre Unterschrift. Der erscheint sofort, in Uniform. „Meine Frau verdient eigenes Geld, sie entscheidet selbst. Sonst wechseln wir die Bank.“ Die Sparkasse gibt nach – und schafft die Zustimmungsregel für alle Frauen im Ort ab.
„Wirtschaftliche Gleichstellung ist zentral, Ehegattensplitting und Steuerklasse 5 müssen weg.“
Es lohnt sich zu kämpfen, die Lektion hat Hannack mitgenommen. Neben der Schule jobbt sie bei ihrer Mutter im Supermarkt, macht weiter nach dem Abitur. Es ist ein Leben zwischen den Welten: Theologiestudium in Münster, festangestellte Verkäuferin im Supermarkt. Als sie hört, dass die Sozialabgaben der Belegschaft, fast 95 Prozent Frauen, falsch abgerechnet werden, gründet sie einen Betriebsrat. Mit der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) erstreiten sie gemeinsam vor Gericht fünf Jahre rückwirkend die Nachzahlung. Gewerkschaftsarbeit wird Hannacks Leben. Statt ihr Studium zu beenden, macht sie Karriere – zunächst bei der HBV, dann bei ver.di, bis sie zum DGB wechselt. Seit ihrem 18. Lebensjahr ist sie aus christlicher Überzeugung CDU-Mitglied.
Es sei durchaus einiges vorangekommen, findet Hannack heute. Mehr Frauen verdienen ihr eigenes Geld, wenn auch meist in Teilzeit. Es gibt mehr Kinderbetreuung, wenn auch regional unterschiedlich. Es gibt Elterngeld, wenn es auch seit vielen Jahren nicht erhöht wurde. Ein wirksames Entgelttransparenzgesetz, das Unternehmen in die Pflicht nimmt und Gehälter offenlegt, das wäre jetzt ein wichtiger Schritt gegen den Gender Pay Gap. „Wirtschaftliche Gleichstellung ist zentral“, sagt Hannack. „Ehegattensplitting und Steuerklasse 5 müssen weg.“ Gleichstellung müsse Teil aller Politikfelder sein, „sonst ist Politik männlich geprägt, ohne dass wir es merken“.
„Es gibt eine Retraditionalisierung der Geschlechterrollen.“
Prof. Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung
Welche unbewussten Mechanismen bremsen Gleichstellung? Prof. Bettina Kohlrausch beschäftigt diese Frage seit ihrem Studium. 2020, zu Beginn ihrer Arbeit als WSI-Direktorin, macht sie eine Umfrage zur Aufteilung der Sorgearbeit während Corona – und ist geschockt: „In den vergangenen 20 Jahren hatte sich exakt nichts geändert, es gibt eine Retraditionalisierung der Geschlechterrollen.“ Was steckt dahinter?
Erkenntnis eins: Die „doppelte Vergesellschaftung“, wie es im Soziologendeutsch heißt, zementiert die Verhältnisse. Denn wo sich das Leben um Erwerbsarbeit herum organisieren muss, wird Sorgearbeit zum Beiwerk. Weil beide Systeme unterschiedlichen Logiken folgen – Karriere durchziehen oder das Kind um 16 Uhr abholen –, müssen Mütter scheitern. „Die Strukturen spiegeln sich in ihrem Leben, auch wenn sie glauben, frei entschieden zu haben.“ Erkenntnis zwei: Es sind die Vorstellungen von Mütterlichkeit und Väterlichkeit, die den Spagat immer noch vor allem den Frauen überlässt. Für viele Männer ist die Anerkennung im Job wichtiger. Vor allem Männer sind nach Umfrageergebnissen immer noch davon überzeugt, dass Mütter für die Kinder wichtiger sind als Väter.
„Dass es ein selbstreferenzielles System ist, in dem sich Männer gegenseitig stärken, habe ich null reflektiert; und die Männer auch nicht.“
In ihrem Leben hat Kohlrausch die Macht der Mechanismen selbst gespürt. Kohlrausch ist 1976 in Bonn geboren, ihre Mutter alleinerziehend und als Vollzeitlehrerin finanziell unabhängig, Geschwister gibt es nicht. „Wir waren ein starkes Frauenteam“, sagt Kohlrausch. Was hilft es, dass sich Kohlrausch und ihre Freundinnen als Feministinnen verstehen? Überall legen sich die subtilen gesellschaftlichen Erwartungen wie ein feines Spinnennetz über den Alltag. Als Kohlrausch im Leistungskurs Deutsch fragt: „Können wir nicht mal ein Buch von einer Frau lesen?“, rollen alle die Augen. Als sie sich in der Uni bei den Jusos engagiert, setzen meist Männer ihre Positionen durch. „Ich habe es meinem Unvermögen zugeschrieben. Natürlich dachte ich nie einfach, der ist ein Mann, der kann es besser. Aber wen ich klug fand, wessen Anerkennung ich haben wollte, das waren alles Männer. Dass es ein selbstreferenzielles System ist, in dem sich Männer gegenseitig stärken, habe ich null reflektiert; und die Männer auch nicht.“
„Gleichstellung schien lange Zeit vor allem eine Sache zwischen Frauen und Staat zu sein. Gesetze, Regularien. Sie muss auch zur Sache zwischen Frauen und Männern werden, sonst ändert sich nichts.“
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung hat Kohlrausch die Augen geöffnet. Als sie in den 2010er-Jahren eine Familie gründet, lässt sie ihrem Mann keine Wahl: Erziehungs- und Hausarbeit teilen sie 50:50 auf. Dass beide im öffentlichen Dienst arbeiten, macht es leichter. „Letztlich ist es eine kulturelle Frage. Für meinen Mann kam es ebenso wenig infrage, unsere Söhne nur mir zu überlassen, wie umgekehrt.“
Kohlrausch sagt: „Gleichstellung schien lange Zeit vor allem eine Sache zwischen Frauen und Staat zu sein. Gesetze, Regularien. Sie muss auch zur Sache zwischen Frauen und Männern werden, sonst ändert sich nichts.“ Was übernimmst du, was ich? Die Wissenschaft sollte die relevanten Fragen dazu stellen: Wie können wir Spielräume erweitern? Was lässt sich mit einer anderen betrieblichen und tariflichen Zeitpolitik bewegen? Und natürlich: Wie gelingt die Angleichung der Löhne?
„Ich habe viel mehr Freiräume als meine Mutter.“
Sabine Jepp, Gleichstellungsbeauftragte beim Schulamt in Greifswald
Knackpunkt Finanzen. Sabine Jepp wiegt den Kopf, ja, stimmt schon, die Daten der Wissenschaft sind eindeutig. Andererseits: „Die wirtschaftlichen Aspekte wiegen für Frauen im Westen mehr, im Osten ist das anders.“ Schon bei ihren ersten Westbesuchen nach dem Mauerfall fällt Jepp das auf. Sie ist knapp 30, hat das Lehramtsstudium abgeschlossen, ein Aufbaustudium draufgesattelt, hat eine kleine Dozentenstelle an der Uni Greifswald und zieht allein zwei Kinder groß. Im Gespräch mit Studentinnen an der Universität Essen sind diese fassungslos: „So was geht doch gar nicht.“ Jepp findet: Es geht. Ein kleiner Urlaub vielleicht, kein Sparen, aber die Lebenszufriedenheit hängt nicht davon ab. „Die großen Einkommenslücken zwischen Männern und Frauen kritisiere ich trotzdem scharf.“ Seit den 1990ern packt Jepp in vielen Gremien der GEW mit an, auch da bemerkt sie Unterschiede: „Teilzeitarbeit von Frauen wird im Westen immer nur als Nachteil, als Armutsrisiko diskutiert – aber ist es nicht auch eine Chance, frei zu wählen?“ Vielleicht gibt es sie doch, die Ostperspektive aufs Land, auch auf die Gleichstellung.
Als Gleichstellungsbeauftragte hat sie viele verschiedene Termine. Eine Sitzung der Auswahlkommission für Schulleitungen, Sprechstunden für Frauen, die Rat suchen, wenn es im Alltag knirscht. „Auf dem Papier haben wir sehr gute Regelungen, aber oft bremst die Einstellung der Menschen die Umsetzung.“ Warum winkt der Schulleiter ab, wenn es darum geht, dass Schulversammlungen in der Kernzeit abgehalten werden, damit Lehrkräfte mit Kindern problemlos teilnehmen können? Warum grummelt es im Kollegium, wenn eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern Direktorin werden will? „Es fehlt an Akzeptanz.“
„Wir müssen uns gegenseitig unterstützen – und genauso die Männer, die es anders machen wollen.“
Immerhin, die Rollenbilder sind diverser geworden. „Ich habe viel mehr Freiräume als meine Mutter.“ Jepp ist in Bollersdorf aufgewachsen, einem Dorf in Brandenburg. Der Vater arbeitet im Straßenbau, die Mutter ist Einkaufsleiterin im Kinderheim. Acht Wochen nach der Geburt geht sie wieder arbeiten, nebenher stemmt sie Haushalt und Nachwuchs. So ist es üblich in der DDR. „Glücklich gemacht hat sie das nicht.“ Das spürt Jepp, wenn sie mit ihrer Mutter mal ausnahmsweise nach Ostberlin fährt, Kuchen essen. „Das hat sie so genossen.“ Nie hätte sich die Mutter beschwert, so war die Zeit. Zumal sich auch ihr Vater das Leben nicht leicht macht, ab vier Uhr in der Früh werkelt er in Haus und Garten. Aber er hat Freiheiten, bekommt Anerkennung für seine Gewerkschaftsarbeit. „Ich habe die Leistung meiner Mutter zutiefst respektiert, aber mir war klar: Ich will anders leben.“
Jepp muss los. Bald steht ein Bundestreffen der GEW-Gleichstellungsbeauftragten an. „Aus unseren unterschiedlichen Perspektiven über Gleichstellung zu diskutieren, ist so wichtig. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen – und genauso die Männer, die es anders machen wollen.“ Damit sich endlich etwas ändert.