Islamismus an Schulen
Da, wo sich der Staat zurückzieht, gehen andere rein
Der Bonner Stadtteil Bad Godesberg ist in den vergangenen Jahren als „Salafistenhochburg“ unrühmlich bekannt geworden. Vorfälle wie die am Nicolaus-Cusanus-Gymnasium (NCG) haben für Schlagzeilen gesorgt.
Wie kann einer solchen Entwicklung gegengesteuert werden und was muss die Politik tun? E&W hat zwei Lehrkräfte, eine Politikerin und eine Wissenschaftlerin zum Gespräch zusammengebracht: Rolf Haßelkus, Realschullehrer, Bonn, und Vorsitzender der GEW Bonn; Ulla Krips, Realschullehrerin, Bonn; Eva Kuzu, zweite stellvertretende Bezirksbürgermeisterin des Stadtbezirks Bonn und sozialpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion; sowie Saloua Mohammed, Hochschuldozentin und Referentin für Rassismuskritik und Rechtsextremismusprävention am Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen.
- E&W: Die Ereignisse am NCG haben gezeigt, dass oft zwei, drei Jungs genügen, um eine ganze Klasse politisch zu indoktrinieren. Eignet sich Religion besonders gut, um die Machtbedürfnisse von Männern zu legitimieren?
Ulla Krips: Männliche Jugendliche verschieben ihr Dominanzstreben in den religiösen Bereich, wenn das in anderen Bereichen nicht klappt. Meines Wissens setzt der Koran auf Freiwilligkeit. Wegen der religiösen Unwissenheit sowohl muslimischer als auch christlicher Jugendlicher würde ich Religion nicht konfessionell, sondern als Religionskunde und Ethik unterrichten.
Eva Kuzu: Das kann ich nur unterstützen, zumal wir immer mehr konfessionslose Menschen haben, für die wir dann auch ein Angebot schaffen würden.
Rolf Haßelkus: Einverstanden, aber das ist nur ein Aspekt des Problems. Wir haben es oft mit jungen Männern zu tun, die in einem patriarchalen Elternhaus aufwachsen. Dann kommen die in Schulen und Kitas, die weiblich dominiert sind und in denen Gleichberechtigung als ein Wert gilt. Dass die in einen inneren Konflikt geraten, wundert mich nicht. Und sie werden damit alleingelassen.
Saloua Mohammed: Was den männlichen Jugendlichen, die Sie ansprechen, oft fehlt, ist ein männliches Vorbild.
Krips: Selbst in Schulen mit überwiegend männlicher Schülerschaft fehlen männliche Schulsozialarbeiter. Hinzu kommt: In Schulen mit einem hohen Anteil Jugendlicher, die nicht für deutsch gehalten werden, besteht die Gefahr, problematisches Verhalten nicht mehr der Altersgruppe im Allgemeinen zuzuordnen.
Haßelkus: Es geht nicht um den Pass eines Menschen oder darum, wie oft jemand betet. Es geht um ein intolerantes, gewaltvolles und extremistisches Verhalten, darum, dass Jugendliche ihre Mitschüler und Lehrer unter Druck setzen, indem sie einem Mädchen, das angeblich zu freizügig im Sportunterricht gekleidet ist, ihr Selbstbestimmungsrecht absprechen. Man muss dieses Problem sehen. Es ist zu lange totgeschwiegen worden.
- E&W: Spielt Glaube in muslimischen Gemeinschaften eine größere Rolle als im zunehmend säkularisierten Europa?
Mohammed: Religionen bilden sich in der Diaspora immer stärker heraus. Studien belegen, dass in vielen muslimisch geprägten Ländern vor allem immer mehr junge Menschen aus dem Glauben – hier dem Islam – austreten. In Europa bekommt man das nicht mit. Zudem ist die Datenlage über muslimisches Leben dünn.
- E&W: Viele Eltern in Bad Godesberg fragen sich, wo ihre Kinder ihre radikalen Ideen herhaben.
Mohammed: Da brauchen wir nur auf die jüngsten Wahlergebnisse zu schauen. Ausschlaggebend war, dass die Rechten es zuerst verstanden haben, TikTok für ihre Zwecke zu nutzen. Und dort sind auch die islamistischen Prediger sehr gut dabei. Antisemitismus, Frauen- und Queerfeindlichkeit sind Brückennarrative, auf die sich Islamisten und Nazis problemlos verständigen können.
Krips: In der Schule ploppt das dann alles auf: die Anfälligkeit für Extreme, für die ganz einfachen Antworten. Wir müssen lernen, den Wert unseres Gesellschaftsmodells in einer Sprache zu vermitteln, die geeignet ist, Jugendliche abzuholen.
Mohammed: Demokraten differenzieren, setzen hinter ein ‚Ja‘ ein ‚Aber‘. Viele hören da lieber auf jemanden, der die Welt in „halal“ und „haram“ sortiert. Es geht jetzt um Niedrigschwelligkeit. Darum, wie wir wieder mehr Zugang zu den Jugendlichen bekommen. Aber: Auch das ist eine Ressourcenfrage.
Haßelkus: Bei uns an der Schule gab es vor einiger Zeit zwei schlimme Gewaltvorfälle, plötzlich hatten wir zwei zusätzliche Sozialarbeiter. Es muss immer erst etwas passieren, bis gehandelt wird.
- E&W: Auch in den Hochburgen der rechten Szene hört man immer wieder: Da, wo sich der Staat zurückzieht, gehen andere rein.
Mohammed: Nichts von dem, worüber wir hier sprechen, ist erst seit heute Thema. Wir wissen seit langem von islamistischen Strukturen in Godesberg. Hier müssen politische Lösungen sowie personelle und finanzielle Ressourcen her. Es ist nicht die Aufgabe eines Gymnasiums, Stadtteilarbeit zu leisten.
Haßelkus: Und Godesberg ist nicht über Nacht ein Zentrum für religiöse Extremisten geworden. Jahrelang sind hier genau deshalb viele Menschen hingezogen und haben das Problem weiter vergrößert. Und die Behörden wollen davon all die Jahre nichts mitbekommen haben? Die Schulen brauchen viel mehr Personal: für Einzelfallberatungen und Supervision in den Kollegien. Wir können doch nicht hinnehmen, dass sich Burn-outs und Versetzungsanträge in großem Maße häufen.
- E&W: Auf der anderen Seite gibt es in Godesberg Privat-schulen, die kaum Muslime aufnehmen. Staatliche Zuschüsse bekommen sie trotzdem.
Haßelkus: Umso schlimmer, dass es so viele Menschen gibt, die angeblich für Multikulti sind, aber ihre Kinder auf gar keinen Fall in Schulen wie das NCG schicken würden. Auch deshalb reden wir dort in allererster Linie über Kinder aus sozial benachteiligten Familien. An diesen Schulen braucht es mehr Ressourcen als in einem Elitegymnasium.
Mohammed: Das zeigt, wie tief soziale Ungleichheit greift, und es trifft diejenigen, die keine Lobby haben: Kinder und Jugendliche.
Krips: Wir müssen als Gesellschaft jetzt handeln. Wir bekommen nicht mehr viele Chancen, unsere Demokratie zu verteidigen.
- E&W: Die Probleme fangen schon im Kleinen an. Viele Lehrkräfte, die muslimische Schülerinnen und Schüler unterrichten, klagen darüber, dass Schwimmunterricht kaum noch möglich sei – und das nicht nur am NCG. Forderungen, die Koedukation, also den gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen, aufzuheben, werden lauter.
Kuzu: Das Problem stellt sich auch abseits des religiösen Aspekts. Als Mutter von fünf Kinder habe ich Zweifel, ob der Schwimmunterricht in seiner jetzigen Form noch zeitgemäß ist. Viele Jungs und Mädchen fühlen sich dort vor allem in der Pubertät unwohl. Ich bin sehr dafür, Bewegungsanreize zu schaffen. Aber ob es der starre Sport- und Schwimmunterricht sein muss, bei dem alle alles mitmachen müssen?
Krips: Gerade Mädchen mit größerer Körperfülle hassen den Schwimmunterricht oft und wollen auch wegen dummer Sprüche von Jungs befreit werden. Die Koedukation im Sportunterricht aufzuheben, wäre ein niedrigschwelliges Angebot, um allen die Chance zu geben, Freude am Sport zu entwickeln.
Haßelkus: Damit habe ich Bauchschmerzen. Die Koedukation wurde erkämpft, um Mädchen die gleichen Chancen zu geben wie Jungen. Wichtiger ist mir aber, dass wir gar nicht erst darüber diskutieren, ob der Schwimmunterricht verpflichtend sein muss oder nicht: Ich habe fünfte Klassen, in denen 70 Prozent nicht schwimmen können.
Kuzu: Das stimmt. Aber kein Kind hat doch je im Unterricht perfekt schwimmen gelernt. Da sind die Eltern in der Pflicht.
Haßelkus: Deshalb müssen wir sie davon überzeugen, wie wichtig Sport- und Schwimmunterricht für die Gesundheit sind. Besonders muslimische Mädchen können oft nicht schwimmen und sind zudem auffallend selten in einem Sportverein. Eine Studie erklärt das damit, dass viele zu Hause in traditionell-religiösen Milieus aufwüchsen, in denen Sport für Mädchen unwichtig sei.
Mohammed: Die Gründe dafür können unterschiedlich sein. Das kann mit dem Elternhaus zu tun haben oder mit Diskriminierungserfahrungen im Fitnessstudio. Und nicht jede Schule erlaubt den Burkini. Mir ist es jedenfalls wichtig, dass auch diese Kinder nicht durchs Netz fallen und schwimmen lernen. Die Religionszugehörigkeit kann relevant sein, finde ich aber sekundär. Wir schauen zu oft auf einzelne Gruppen und übersehen, dass wir ein systemisches Problem haben.
- E&W: Was meinen Sie damit?
Mohammed: Wir wissen, dass viele Kinder während der Covid-19-Pandemie vereinsamt sind und dass sich einige von ihnen radikalisiert haben – in Richtung Rechtsextremismus oder Islamismus. Das alles sollen dann die Lehrer richten, während im Sozial- und Bildungssektor massiv gekürzt wird.
- E&W: Welche Rolle spielen der Nahost-Konflikt und die Deportationsfantasien der AfD?
Krips: Jugendlichen und selbst Kollegen im Schuldienst macht Sorgen, was die AfD von sich gibt. Palästinensische Jugendliche haben zudem den Eindruck, das Schicksal der Menschen in ihrer Heimat interessiere hier niemanden.
Haßelkus: Wichtig ist, auch das Nahost-Thema mit den Kindern aufzuarbeiten. Ich habe aber leider auch gemerkt: Es ist verdammt schwierig, mit noch so guten Argumenten gegen einen TikTok-Post anzukommen.
1. Überwältigungsverbot
Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.
Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.
3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,
sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich erhobene Vorwurf einer „Rückkehr zur Formalität“, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.
Das hat der Beutelsbacher Konsens damit zu tun
Demokratiebildung ist zentraler Bestandteil des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule. Die Landesschulgesetze beschreiben die Ziele. Lehrkräfte sollen demokratische Werte wie Würde und Gleichheit aller Menschen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität vermitteln.
Wenn es in der Schule um politische Bildung geht, müssen sich Lehrkräfte nicht neutral verhalten. Es ist wichtig, verschiedene Blickwinkel zu beleuchten. Lehrkräfte sollen auf Basis des Grundgesetzes eine klare Haltung gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung und menschenverachtende Aussagen zeigen.
Oft fällt das Stichwort ’Beutelsbacher Konsens’. Er ist ein in den 1970er-Jahren formulierter Minimalkonsens für den Politikunterricht in Deutschland. Er darf nicht mit dem parteipolitischen Neutralitätsgebot des Staates verwechselt werden. Der Konsens formuliert drei zentrale didaktische Prinzipien politischer Bildung: das Überwältigungs- bzw. Indoktrinationsverbot, das Kontroversitätsgebot sowie das Ziel, dass Schüler*innen zur politischen Teilhabe befähigt werden sollen. Lehrkräfte dürfen ihre eigene politische Meinung ausdrücken, diese aber nicht als allgemeingültig darstellen. Kontroverse Themen müssen multiperspektivisch behandelt werden.