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"Da wird eine rote Linie überschritten"

In deutschen Schulbüchern werden Themen wie Reichtumsverteilung oder Marktversagen ignoriert, während die Unternehmen in Schulmaterialien munter ihr Weltbild ausbreiten, kritisiert Didaktik-Professor Tim Engartner im Interview mit der Hans Böckler Stiftung.

Das folgende Interview entstammt der Ausgabe 09/2013 des Magazins Mitbestimmung der Hans Böckler Stiftung:

Mitbestimmung: Herr Engartner, an Schulen in Deutschland spielt sich ein didaktisches Desaster ab, sagen Sie. Ein großes Wort! Was meinen Sie damit?

Engartner: Wenn Sie sich Schulmaterialien aus dem im Grunde weiten Feld der ökonomischen Bildung anschauen, stellen Sie schnell fest: Es werden ausschließlich zwei Themenfelder bestellt: "Entrepreneurship Education" und finanzielle Allgemeinbildung. Es geht also nicht darum, Schüler umfassend in ökonomischen Fragen zu bilden, sondern darum, Unternehmergeist zu wecken. Das verträgt sich nicht mit dem Allgemeinbildungsauftrag der Schulen und geht an der Lebenswirklichkeit vorbei: Neun von zehn Schülern werden später als abhängig Beschäftigte arbeiten - und nicht als Selbstständige.

Und das zweite Thema? Finanzielle Grundbildung braucht doch jeder.

Tatsächlich geht es dort in der Regel um Marketing für Produkte der Finanzindustrie. Die Initiative MyFinanceCoach zum Beispiel, zu deren Förderern die Allianz ebenso gehört wie McKinsey und die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, verfügt über ein Jahresbudget von 2,3 Millionen Euro. In ihren Gesprächsleitfäden für Lehrer wirbt sie offensiv für das Kapitaldeckungsprinzip in den Sozialversicherungen, um zugleich die unser System dominierende Umlagefinanzierung zu diskreditieren. Deswegen sei im Unterricht der Nutzen privater Absicherung zu vermitteln, heißt es dort. Das ist Produktwerbung für private Altersvorsorge - im Übrigen reichlich verfrüht und völlig an den Interessen der Schüler vorbei. Grundsätzlich gilt: Es ist Aufgabe staatlich geprüfter Lehrer und Schulmaterialien, Schüler auszubilden, nicht die von Unternehmensmitarbeitern und Unternehmensbroschüren. Damit wird eine rote Linie überschritten.

Die Institute und Initiativen, die sich in der ökonomischen Schulbildung betätigen, beklagen ganz andere Dinge: Der Staat kümmere sich zu wenig um wirtschaftliche Bildung; wenn er es doch tue, dann unter Zuhilfenahme tendenziöser, industriefeindlicher Materialien.

Diesen Mythos hat eine Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig im Frühjahr eindrücklich widerlegt: "Die deutschen Schulbücher zeichnen ein erstaunlich differenziertes Bild der Wirtschaft und unternehmerischer Tätigkeit. Eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Unternehmertum und Marktwirtschaft kann ihnen nicht attestiert werden", heißt es darin. Der Vorwurf, deutsche Schulbücher blendeten unternehmerische Perspektiven aus, ist aus der Luft gegriffen. Ignoriert werden stattdessen andere Themenfelder: die Kluft zwischen Arm und Reich zum Beispiel, aber auch die Themen Arbeitsrecht, Funktionen von Geld und Marktversagen kommen kaum vor.

Was sollen die Schulen denn nun tun? Jede Kooperation, auch mit dem lokalen Mittelstand, meiden? Viele betrachten das als weltfremd.

Im Bereich der Arbeitsweltorientierung sind Kontakte zu und Besuche von Unternehmen natürlich nicht grundsätzlich schlecht. Aus pädagogischer wie aus didaktischer Sicht entscheidend bleibt: Wer hat das Heft in der Hand, wer kontrolliert die Inhalte? Und werden die Grundsätze politischer Bildung beachtet? Wenn eine Interessengruppe zu Wort kommt, muss auch die andere gehört werden, also: Wer die Bundeswehr einlädt, muss auch die Bufdis, die Bundesfreiwilligendienstler, in den Unterricht holen, auf den Besuch der Versicherer müsste einer der Verbraucherzentralen folgen. Und so weiter.

Das sollten Lehrer, die Fächer wie Politik und Wirtschaft unterrichten, auch wissen.

Leider wird das Fach zu häufig nach dem Prinzip "Avanti dilettanti" unterrichtet. So wird in Nordrhein-Westfalen nahezu jede zweite Unterrichtsstunde in den sozialwissenschaftlichen Fächern von Fachfremden erteilt, also von Lehrern, die für andere Fächer ausgebildet sind. Das Grundproblem ist: Der Staat kommt seinen Verpflichtungen nicht nach, und zwar weder bei der Sicherung des Lehrernachwuchses noch bei der Ausstattung der Schulen oder der Versorgung mit Lehr- und Lernmitteln. Durch diese Defizite an den Schulen wird dem Kampf um die Köpfe der Schüler Tür und Tor geöffnet. Schließlich - das weiß jedes Unternehmen - braucht es im Vergleich zu Erwachsenen als Zielgruppe nur ein Viertel des Werbeetats, um ein Kind zu beeinflussen.

Der DGB und die GEW erhoben jüngst die Forderung, externe Unterrichtsmaterialien vor ihrem Einsatz von einer Prüfstelle der Kultusministerien prüfen zu lassen. Die Ministerien lehnen das ab.

Dabei wäre das in der Tat überfällig. Schulbücher durchlaufen in 13 von 16 Bundesländern ein differenziertes Zulassungsverfahren; Materialien privater Anbieter hingegen kommen völlig ungefiltert in den Unterricht. Das ist überhaupt nicht einzusehen. Um noch einmal deutlich zu machen, wie wenig wir es mit einem Nischenphänomen zu tun haben: 15 der 20 der umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland produzieren Unterrichtsmaterialien. Und auch die Schulleistungsstudie Pisa hat bereits 2006 - weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit - ergeben, dass neun von zehn Schulleitern an Sekundarschulen in Deutschland sagen: Wirtschaft und Industrie üben Einfluss auf die Schüler aus. OECD-weit ist das ein Negativrekord.

Nun warnen Sie einerseits vor Verfechtern von Partikularinteressen in der Schule - und machen doch selbst mit: Sie beraten die Hans-Böckler-Stiftung bei der Erstellung ihrer Unterrichtsmaterialien und haben selbst ein Themenheft zur Wirtschafts- und Finanzmarktkrise verfasst.

Ertappt - eine gewisse Doppelmoral können Sie da nicht in Abrede stellen. Aber: Der Hans-Böckler-Stiftung mag es um Fragen gehen, die für Arbeitnehmer relevant sind, eingebettet in eine auch kontroverse Darstellung von Aspekten der Arbeitswelt; nicht aber um auf der Hand liegende Gewinnerzielungsabsichten. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Vor allem aber bin ich angesichts dessen, dass die Lage nun einmal so ist, wie sie ist, der Überzeugung: Man kann sich um ökonomische Bildung auch verdient machen - statt mit ihr zu verdienen. Und das bedeutet, in einem Angebot sehr zweifelhafter Vielfalt einige Leerstellen zu füllen und kritisch eine Entwicklung auf den Finanzmärkten samt ihrer Hintergründe zu beleuchten, deren Folgen im Übrigen auch alle Schüler betreffen.