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Verschwörungsmythen

Da hilft nur klassische Demokratieerziehung

Schule müsse Jugendliche besser über die Hintergründe von Verschwörungsmythen aufklären, meint der Pädagoge Klaus Müller. Zusammen mit dem Historiker Christopher Kirchberg hat er die Broschüre „Verschwörungstheorien“ herausgegeben.

Foto: stocksnap.io / Creative Commons CC0
  • Herr Müller, Ihre Broschüre betrachtet Verschwörungserzählungen aus mehreren wissenschaftlichen Perspektiven. Warum?

Weil wir das Thema nicht skandalisieren wollten, sondern so behandeln, dass es in der politischen Bildung gut eingesetzt werden kann. Dazu ist unerlässlich, verschiedene Blickwinkel einzubeziehen. Ein historischer Blick ist ebenso wichtig wie eine Aufarbeitung des Zusammenhangs von Verschwörungsmythen und Antisemitismus. Ebenso zentral ist, welche sozialpsychologischen Mechanismen sie attraktiv machen und welche sprachlichen Figuren immer wieder auftauchen.

  • Durch das Heft lernt man, dass es Verschwörungserzählungen schon in der Antike gab.

Ja, das stimmt. Doch erst im 19. Jahrhundert kam eine Entwicklung hinzu, die bis heute bestimmend ist: Der Gedanke der Weltverschwörung, der davon ausgeht, im Verborgenen seien geheime Mächte tätig, oft verknüpft mit einer antisemitischen Konnotation. Letzteres hat viel mit der Veröffentlichung der sogenannten Protokolle der Weisen von Zion zu tun, die später den Nationalsozialisten als Basis für die Shoah dienten. Der Antisemitismusexperte Wolfgang Benz hat zu den „Protokollen“, die er die mächtigste aller Lügen nennt, ein eigenes Kapitel beigesteuert.

„Die Behauptung einer „jüdischen Schuld“ an Krankheiten lässt sich über Jahrhunderte nachzeichnen – von der Pest über die Schweinegrippe bis zur Corona-Pandemie.“

  • Schon im Mittelalter wurde Juden vorgeworfen, Brunnen vergiftet und so die Pest über Europa gebracht zu haben. Auch das steht in dem Heft und ist eine interessante Parallele zu Verschwörungserzählungen während der Corona-Pandemie.

Die Behauptung einer „jüdischen Schuld“ an Krankheiten lässt sich über Jahrhunderte nachzeichnen – von der Pest über die Schweinegrippe bis zur Corona-Pandemie. Deutlich zu machen, dass bei unerklärbaren Ereignissen, die stets mit Ängsten verknüpft sind, immer wieder auf uralte antijudaistische oder antisemitische Mythen zurückgegriffen wird, war ein wesentlicher Anlass für die Broschüre. Das Themenfeld ist dabei unendlich weit: In der Finanzkrise wurde der US-amerikanische Investor George Soros auf Plakaten als Strippenzieher dargestellt, die Botschaft: „Juden zerstören die Finanzwelt, um daraus Vorteile für das Judentum zu ziehen.“ Auch das Bild von der Lügenpresse greift regelmäßig darauf zurück, Zionisten hätten die Massenmedien unterwandert.

  • Sie sprechen selbst von „Mythen“, doch das Heft trägt den Titel Verschwörungstheorien. Sollte es besser „Verschwörungsmythen“ heißen?

Viele würden Ihnen da folgen, auch in der Broschüre vermeidet eine Autorin den Begriff „Theorie“. Als Herausgeber haben wir uns anders entschieden: Erstens ist der wissenschaftlich national wie international etablierte Begriff „Conspiracy Theory“, also „Verschwörungstheorie“. Zweitens stimmt unseres Erachtens das Hauptargument gegen die Verwendung des Wortes „Theorie“ nicht. Denn das lautet, Verschwörungstheorien ließen sich nicht falsifizieren, also überprüfen. Das lassen sie sich durchaus. Nur die, die sie verbreiten, akzeptieren das nicht.

„Meines Erachtens liegt die große Aufgabe darin, Menschen und vor allem Jugendliche darin zu stärken, Ungewissheit auszuhalten.“

  • Ist eine Zeit vieler Verschwörungserzählungen auch ein Zeichen dafür, dass Politik und Wissenschaft besser, verständlicher kommunizieren sollten?

Natürlich sollten besondere Ereignisse und Phänomene gründlich und verständlich erklärt werden. Aber: Oft gibt es in einer komplexer werdenden Welt erst einmal keine gesicherte Erklärung. Es gibt Unsicherheiten, sogar Fehler werden gemacht. Meines Erachtens liegt die große Aufgabe darin, Menschen und vor allem Jugendliche darin zu stärken, Ungewissheit auszuhalten. Wer diese nicht aushält, neigt am ehesten zu Pseudoerklärungen von Menschen, die behaupten, sie kennen die Wahrheit.

  • Das ist auch ein Auftrag an die Schule, vor allem an die politische Bildung?

Ja, das ist klassische Demokratieerziehung. Diese gehört jedoch nicht nur für ein paar Stunden in den Politikunterricht. Sie ist ein Querschnittsthema, das sich durch die gesamte Bildung ziehen sollte. Dass darüber auch in dieser Zeit so wenig gesprochen wird, zeigt in meinen Augen nur ein weiteres Mal, dass die Bedeutung der Demokratieerziehung von den politisch Verantwortlichen immer noch nicht ausreichend verstanden wurde.

Klaus Müller ist Sprecher der Regionalgruppe Südhessen des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie. Von 1983 bis 1993 war der Pädagoge und ehemalige Schulleiter Vorsitzender der GEW Hessen.