D5 - Bildung kann nicht warten: Allen geflüchteten Menschen eine Chance geben
Deutschland und seine Bildungseinrichtungen müssen ein sicherer Zufluchtsort für alle Geflüchteten sein.
Der Krieg in der Ukraine hat Millionen Menschen, insbesondere Frauen und Kinder, in die Flucht gezwungen. Dieser Krieg zeigt ein weiteres Mal, dass die Bildungseinrichtungen in Deutschland in Krisensituationen besser von Politik und Administration unterstützt werden müssen. Deutschland und seine Bildungseinrichtungen müssen ein sicherer Zufluchtsort für alle Geflüchteten sein. Auch wenn bei vielen Flüchtenden der Wunsch besteht, bald zurückzukehren, wird ein großer Teil von ihnen voraussichtlich über einen unabsehbaren Zeitraum bei uns leben.
Gerade die jüngsten, oft traumatisierten Geflüchteten benötigen besonders gut ausgestattete Bildungseinrichtungen. Diese müssen so ausgestattet werden, dass sie in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe dauerhaft bewältigen zu können.
Bildungseinrichtungen öffnen und unterstützen
Die GEW fordert Bund und Länder auf, die Voraussetzungen zu schaffen, dass allen geflüchteten Kindern und jungen Menschen schnellstmöglich die Aufnahme in Kitas, Schulen, Hochschulen und berufliche Qualifizierung ermöglicht wird. Viele Bildungseinrichtungen befinden sich jedoch, nicht allein durch die Folgen der Corona-Pandemie, am Rande der Leistungsfähigkeit. Neben den pandemiebedingten Belastungen, sozialen Verwerfungen und der schwierigen Planbarkeit des Alltags in Bildungseinrichtungen gefährdet insbesondere der dramatische Mangel an Personal mittlerweile die Bildungsanstrengungen in Deutschland insgesamt.
Geflüchtete Menschen aus der Ukraine und allen anderen Ländern sowie Regionen treffen in Kitas, Schulen, Berufsschulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen indessen auf motivierte Beschäftigte. Diese sind in hohem Maße bereit, sich über die ihnen bereits gestellten Anforderungen hinaus zu engagieren, benötigen jedoch dringend zusätzliche Unterstützung. Die Herausforderungen durch die Aufnahme geflüchteter und oftmals traumatisierter Kinder, Jugendlicher und Erwachsener können nur gestemmt werden, wenn Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen schnell und unbürokratisch die notwendigen Ressourcen erhalten. Hierbei müssen alle bundes-, landes- und kommunalpolitischen Akteur*innen gemeinsam, koordiniert und weitsichtig agieren.
Bildungs-, Kinder- und Menschenrechte umfänglich wahren – hohe fachliche und professionelle Standards gewährleisten
Nach traumatischen Kriegs- und Fluchterfahrungen ist es von besonderer Bedeutung, den Kindern und Jugendlichen die Rückkehr in eine gewisse Normalität und Sicherheit zu erleichtern und ihnen den sofortigen Zugang zum Sozialraum, zu Bildung, soziale Kontakte zu Gleichaltrigen sowie Halt gebende und schöne Erfahrungen zu ermöglichen. Im Fokus bildungs- und sozialpolitischer Entscheidungen müssen außerdem das Wohl und die Rechte von Kindern und Jugendlichen sowie die Bedarfe von Familien stehen. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang geeignete niedrigschwellige Therapie- und psychosoziale Beratungsangebote sowie ein zusätzlicher Ausbau der Sozialarbeit im Bildungssystem.
Kitas, Schulen und Bildungsträger benötigen dringend mehr finanzielle Mittel für Fachkräfte, Räume und Ausstattung, um ein gutes Bildungs- und Betreuungsangebot zu ermöglichen. An Schulen werden vor allem Lehrkräfte für Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache (DaZ), aber auch Sozialarbeiter*innen, Schulpsycholog*innen, Fachkräfte im Umgang mit Traumata sowie Dolmetscher*innen gebraucht. Auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und positiver Beispiele aus der Praxis sind Konzepte zu entwickeln, die gerade in Krisenzeiten ein abgestimmtes und qualitativ hochwertiges Handeln zwischen Fachkräften in Kindertagesstätten, Grundschulen und Schulsozialarbeit sicherstellen und so die individuelle Begleitung und Schutz junger Menschen garantieren. Bei dem derzeit vorhandenen Fachkräftemangel wird es vor allem schwierig sein, qualifiziertes Personal zu gewinnen. Dennoch müssen eine hohe Qualität und Fachlichkeit das Ziel sein und dringend in die Ausbildung zusätzlicher Kräfte investiert werden.
Sprache als Schlüssel für das Ankommen
Der Erwerb der deutschen Sprache ist sowohl für das Ankommen als auch für die Bildungsteilhabe wichtig. Daher müssen Kitas, Schulen, Berufsschulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen personell und finanziell zusätzlich so ausgestattet werden, dass deutlich mehr Kapazitäten für eine individuelle und bedarfsgerechte DaZ-Sprachbildung zur Verfügung stehen und die regulären Angebote unverändert aufrechterhalten werden können.
Der Zugang zu Willkommens-, Intensiv- oder Vorbereitungsklassen für Schüler*innen, zu Sprach- und Integrationskursen sowie zu Bildungs- und Weiterbildungsangeboten für Erwachsene muss ebenso gewährleistet werden wie eine zügige und unkomplizierte Anerkennung beruflicher Abschlüsse und Qualifikationen. Gesonderte Lerngruppen, Klassen oder Kurse für geflüchtete Menschen können das Ankommen erleichtern, müssen aber immer als zusätzliches Angebot konzipiert sein und eine inklusive Gesamtperspektive haben. Das heißt, dass die Lernenden möglichst sofort bzw. schnell auch an den Regelangeboten teilnehmen.
Diese sollen von Anfang an durch Sprachlernangebote in Deutsch als Zweit- und Bildungssprache ergänzt werden. Die GEW fordert zudem eine durchgängige Sprachbildung als verpflichtenden Bestandteil in allen Fächern sowie eine entsprechende Ausweitung der assistierten Ausbildung und ausbildungsbegleitenden Hilfen in der beruflichen Bildung. Die Sprachenvielfalt an Kindertagesstätten muss durch kommunale Konzepte und Unterstützungssysteme zur Förderung der Familiensprachen flankiert werden. Das Angebot herkunftssprachlichen Unterrichts sowie die Anerkennung der Sprachen geflüchteter und zugewanderter Kinder als Fremdsprache müssen zum Standard werden. Die GEW engagiert sich für Förderung der Mehrsprachigkeit und den Rechtsanspruch auf Anerkennung von Familiensprachen für Schulabschlüsse, die dem Prinzip folgt „Alle Sprachen sind gleichberechtigt“.
Kurzfristige Rückkehrperspektiven in die Ukraine ermöglichen
Neben bisherigen Bildungsverläufen und anstehenden Bildungsabschlüssen sollten zugleich – durchaus digital gestützte – Bildungsangebote in ukrainischer Sprache und nach ukrainischen Lehrplänen gemacht und entsprechende digitale Endgeräte bereitgestellt werden. Dies gilt vor allem für diejenigen, die kurz vor dem Schulabschluss stehen. Im Sinne einer Kontinuität der akademischen Ausbildung sollen die Hochschulen bei der Pflege und dem Ausbau von Kooperationen mit ukrainischen Hochschulen und dem Aufbau von virtuellen Studienangeboten unterstützt werden.
Ressourcen nachhaltig und umfassend sichern
Weder die Gruppen an Kindertagesstätten noch die Regel- und Willkommensklassen an Schulen dürfen dabei auf eine Größe anwachsen, die eine vernünftige pädagogische Arbeit verhindert. Die Bildungs- und Sprachlernangebote im Bereich DaZ für die aktuell Geflüchteten dürfen auf keinen Fall dazu führen, dass Fördermittel für andere Gruppen im Bildungsbereich gekürzt werden.
Deutsch-Sprachförderung, Bildungsberatung und die psychologische Begleitung bei der Bearbeitung von Krieg, Flucht und Traumata für die Geflüchteten sollten ergänzt werden durch zusätzliche Angebote im Bereich der Musik-, Ergo-, Tanz-, Bewegungs- und Sporttherapie, durch herkunftssprachliche Mittler*innen und Bildungslots*innen in den Bildungseinrichtungen, regionalen Bildungszentren und Jugendämtern sowie durch eine bessere Ausstattung der Migrationsberatungsstellen und Jugendmigrationsdienste. Auch sollte die Kooperation mit Bildungsträgern, Musik- und Kunstschulen, mit Vereinen und der Zivilgesellschaft gefördert und ausgebaut werden. Das Angebot für Integrations- und berufsbezogene Sprachkurse muss dringend erweitert und auskömmlich ausgestattet werden – inklusive Kinderbetreuung.
Die notwendigen Räumlichkeiten müssen frühzeitig organisiert und zur Verfügung gestellt werden. Das gilt besonders für Ballungsräume, die vermutlich besonders stark vom Zuzug geflüchteter Menschen aus der Ukraine betroffen sein werden. Zu den erforderlichen Unterstützungssystemen gehören außerdem die direkte und praxisorientierte Unterstützung der Beschäftigten in den kommunalen Bildungseinrichtungen, z. B. durch Fachstellen für Inklusion und/oder Fachberatungen sowie der Ausbau der Fachberatungsstellen auf kommunaler Ebene.
Geflüchtete Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte müssen schnell und niedrigschwellig ein Beschäftigungsangebot an Schulen und Kitas erhalten. Dabei müssen ihre entsprechenden Qualifikationen unbürokratisch anerkannt und eventuell notwendige (Nach-)
Qualifizierungsmaßnahmen in ausreichender Anzahl angeboten werden. Dazu gehören nicht zuletzt kostenfreie, berufsspezifische C1- und C2-Kurse für Pädagog*innen gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER). Die GEW fordert in diesem Zusammenhang die Festlegung des GER-Niveaus C1 als ausreichende Sprachqualifikation für die Einstellung. Von Pädagog*innen üblicherweise geforderte deutsche Sprachkenntnisse müssen auch berufsbegleitend erworben werden können, wenn der Unterricht überwiegend in der Muttersprache erbracht wird.
Auch sind die Beratungsangebote zur Anerkennung auszubauen und die Kosten für die Verfahren und evtl. Anpassungs- und Weiterqualifizierungen zu übernehmen. Auf faire Anstellungsbedingungen entsprechend der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes ist zu achten.
Geflüchtete Studierende, Hochschuldozent*innen und Forschende brauchen eine ihren spezifischen Bedürfnissen angemessene Unterstützung und eine verlässliche Perspektive an deutschen Hochschulen. Die GEW begrüßt daher die Öffnung des BAföG für geflüchtete ukrainische Studierende und fordert die Ausweitung auf alle geflüchteten Studierenden. Die GEW sieht den Bund darüber hinaus in der Pflicht, mit einem Sonderprogramm die Länder und Hochschulen finanziell so zu entlasten, dass die zusätzliche Aufnahme geflüchteter Studierender mit allen damit einhergehenden Kosten (ergänzende Beratungsangebote, Sprachkurse, zusätzliche Lehre und Betreuung) nicht zu Lasten anderer Grundaufgaben der Hochschulen geht.
Dies alles wird den Bildungseinrichtungen und deren Leitungskräften viel abverlangen. Es ist schon länger bekannt, dass gerade die Arbeitsbelastung von Leitungskräften dermaßen angestiegen ist, dass es ein „Weiter so“ nicht mehr geben kann. Zusätzliche Verwaltungsaufgaben können nicht mehr übernommen werden. Die Kommunen und das Land müssen Verantwortung übernehmen und für Entlastung Sorge tragen. Zugleich muss das einschlägige Personal in Schul- und Jugendbehörden aufgestockt werden.
Ressourcen aufbringen und steuern
Die GEW fordert Bund und Länder auf, für weitere finanzielle Entlastung der Kommunen zu sorgen. Sie tragen die Hauptlast bei der Unterstützung und Integration der Geflüchteten – ob bei der Bereitstellung von Wohnraum für Geflüchtete und ihrer Unterbringung, ihrer Versorgung oder ihrer Beratung. Um hier Abhilfe zu schaffen, ist die Anfang April zwischen Bund und Ländern erzielte Einigung zur Kostenübernahme für die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine ein erster wichtiger Entlastungsschritt. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Bundesregierung ihre zugesagte Kostenbeteiligung für 2022 – wie angekündigt – verstetigt und nötigenfalls bereit ist, ihre finanzielle Unterstützung für Länder, Kommunen und Hilfsorganisationen weiter aufzustocken. Die Bildungspolitik wird aufgefordert, mehr Ressourcen für das Monitoring und die Wirkungsforschung im Hinblick auf die Angebote für Geflüchtete aufzubringen.
Die GEW fordert – unter Einbeziehung der Task Force der Kultusministerkonferenz (KMK) – die Einsetzung einer hochrangigen Arbeitsgruppe von Bund, Ländern, Gemeinden, Gewerkschaften, Migrant*innenorganisationen sowie Trägern von Bildungseinrichtungen, Arbeitsagentur und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die eine abgestimmte, vorausschauende und nachhaltige Planung gewährleistet.
Die GEW fordert seit langem, dass das Bildungssystem signifikant besser finanziert und personell ausgestattet werden sowie qualitativ und quantitativ ausgebaut werden muss. Bund und Länder bleiben aufgefordert, für alle staatlichen Ebenen eine nachhaltige Bildungsfinanzierung endlich auf den Weg zu bringen und sicherzustellen. Das Kooperationsverbot ist aufzuheben. Die Bildungshaushalte der Länder müssen insbesondere für die Herausforderungen von Bildung in der Migrationsgesellschaft und der Entwicklung eines inklusiven Bildungswesens dauerhaft erhöht werden.
Der Krieg in der Ukraine zeigt noch einmal: Wir brauchen eine stabile Finanzierung und Förderung von Regionalstudien, die uns helfen, diese Krisen zu verstehen und zu analysieren, worauf zuletzt auch die Hochschulrektorenkonferenz hingewiesen hat. An vielen Hochschulen sind jedoch in den letzten Jahren die sogenannten kleinen Fächer, zu denen z. B. die Ukrainistik gehört, unter Druck geraten, weil die Hochschulen keine den Grundbedarf deckende Haushaltsfinanzierung haben.
Bildung für Menschenrechte und Frieden
Die GEW bekennt sich zu der Verantwortung, Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, aufzunehmen und die Unterstützung zukommen zu lassen, der sie für eine Existenz in Würde und Gleichberechtigung bedürfen. Sie verweist auf verfassungs- und völkerrechtliche Pflichten Deutschlands zur Gewährleistung des Rechts auf gute Bildung für alle, welche sich aus dem Grundgesetz und bspw. der UN-Flüchtlings-, der UN-Kinderrechts- und der UN-Behindertenrechtskonvention sowie dem internationalen Berufsethos für Pädagog*innen ergeben. Die GEW unterstützt die geflüchteten und in Not geratenen Kolleg*innen von den beiden Bildungsgewerkschaften der Ukraine mit Mitteln des Heinrich-Rodenstein-Fonds. Die GEW bekräftigt zudem die Beschlüsse der Bildungsinternationale von 2019 und 2015, in der sich die Gewerkschaften weltweit auf eine hochwertige und wertebasierte Bildung verpflichten und ihren Beitrag zum gemeinsamen Leben sowie zu Toleranz und Frieden durch Bildung formulieren.
Die GEW lehnt jegliche Forderungen, Feindbilder zu schaffen, ab und setzt sich weiterhin für Humanität und Frieden ein.