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Coronapandemie

Mehr Gleichheit durch Ungleichheit

Corona verschärft die Chancenungleichheit. Trotzdem könnte in ihr eine Chance für eine bildungspolitische Wende liegen. Das offenbarte der Online-Kongress „Risse in der Bildungsrepublik?!“ des DGB Anfang September.

Mehr Chancengleichheit kann nur durch mehr Investitionen in Schulen in benachteiligten Stadtteilen erreicht werden. (Foto: IMAGO/agefotostock)

„Die Spaltung gibt es schon lange und daran hat sich auch seit der vor zwei Jahrzehnten veröffentlichten PISA-Studie kaum etwas verändert“, bedauerte Bildungsforscher Klaus Klemm (Uni Duisburg-Essen) in einer Diskussionsrunde. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani (Uni Osnabrück) ergänzte: „Es ist paradox. Das Bildungsniveau steigt, doch die Chancenungleichheit bleibt bestehen.“ Die Bildungs-Pyramide sei auf den Kopf gestellt worden. Der Anteil von höheren Bildungsabschlüssen habe zugenommen. Allerdings habe sich der Abstand zwischen „oben“ und „unten“ dadurch nicht verringert. Für die unteren 20 Prozent habe sich die Lage weiter verschlechtert; diese „große Minderheit“ fühle sich zusehends abgehängt, da ein Aufstieg durch Bildung immer schwerer möglich sei. Viele Betroffene aus dieser Schicht würden daher resignieren.

„Der Auftrag der Schulen muss es sein, die ungleiche Strukturierung der Kindheit auszugleichen.“ (Aladin El-Mafaalani)

Klemm und El-Mafaalani waren sich mit Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), und der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Elke Hannack einig: „Wir können mehr Chancengleichheit nur durch Ungleichheit erreichen.“ Im Klartext: Mehr Investitionen in Schulen in benachteiligten Stadtteilen statt nach dem Gießkannenprinzip. Ungleich, sprich individuell, müsse auch das Lernangebot sein. „Der Auftrag der Schulen muss es sein, die ungleiche Strukturierung der Kindheit auszugleichen“, sagte El-Mafaalani. Klaus Klemm kann sich vorstellen, dafür Kinder aus sozial benachteiligten Familien bei der Vergabe von Kita-Plätzen für Unter-Dreijährige „zu bevorzugen“. Alle vier begrüßten den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule und forderten eine neue vom Bund gesteuerte Bildungsoffensive. Hannack: „Inklusive eines nationalen Bildungsrates unter Einbindung der Sozialpartner.“

Corona verschärft die Lage

„Wir brauchen einen gesellschaftlichen Konsens, mehr Geld in Bildung zu investieren und Schulen zu verändern.“ (Maike Finnern)

Der These, dass die Coronapandemie die soziale sowie die Bildungsungleichheit verschärft habe, stimmte die GEW-Vorsitzende Maike Finnern in einem zweiten Podium zu. Aber sie glaubt auch: „Die Schieflage ist nicht mehr zu übersehen, sie ist in den Köpfen angekommen.“ Daraus schöpft sie die Hoffnung, dass sich nun doch etwas ändern könnte. „Wir brauchen einen gesellschaftlichen Konsens, mehr Geld in Bildung zu investieren und Schulen zu verändern.“

Auch die GEW-Vorsitzende plädierte für eine unterschiedliche Behandlung der Schulen. Jene in sozial besonders herausfordernden Lagen müssten besser ausgestattet werden. Sie kritisierte, dass der Fachkräftemangel sich ausgerechnet an Schulen in Gebieten mit besonderen Herausforderungen bemerkbar mache. „Es gibt genau dort Schulen, die mit 70 Prozent Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern arbeiten.“ Gerade dort, wo individuelle Förderung besonders wichtig sei, seien die Grundschulklassen zudem deutlich größer als in „reichen“ Regionen.

„Wir brauchen deutlich kleinere Klassen.“ (Julia Gajewski)

Den Hinweis griff Julia Gajewski, Leiterin der Gesamtschule Bockmühle bei Essen, auf und verwies auf Erkenntnis aus der Corona-Zeit: „Wir brauchen deutlich kleinere Klassen.“ In den halbierten Lerngruppen der vergangenen Monate sei der Lernzuwachs fast verdoppelt worden. Was auch daran liege, dass die den Unterricht verhindernden Konflikte deutlich geringer ausgefallen seien. Außerdem habe man sich beispielsweise viel intensiver um die Sprachförderung kümmern können.

Der Sprecher der Autorengruppe Bildungsbericht, Kai Maaz (DIPF), riet von solch einer Debatte zum jetzigen Zeitpunkt jedoch ab. Stellschrauben für mehr Chancengleichheit seien Unterrichtsmodelle, die den Umgang mit Heterogenität stärker berücksichtigten, andere Qualifikationen der Lehrkräfte und die stärkere Einbindung anderer Professionen. Dazu Aladin E-Mafaalani: „Wir haben doch alles. Vereine, Musikschule, Streetworker usw. Die Systeme müssen sich nur vernetzen.“

Die Richtschnur für die Maßnahmen in der Schule sollen nach Ansicht der GEW die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts sein. Dafür schlägt die GEW ein Fünf-Punkte-Programm vor:

5-Punkte-Programm zum Gesundheitsschutz an Schulen
Ab der 5. Klasse muss das gesellschaftliche Abstandsgebot von 1,5 Metern gelten. Dafür müssen Klassen geteilt und zusätzliche Räume beispielsweise in Jugendherbergen gemietet werden.
Um die Schulräume regelmäßig zu lüften, gilt das Lüftungskonzept des Umweltbundesamtes. Können die Vorgaben nicht umgesetzt werden, müssen sofort entsprechende Filteranlagen eingebaut werden.
Die Anschaffung digitaler Endgeräte für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler muss endlich beschleunigt werden. Flächendeckend müssen eine datenschutzkonforme digitale Infrastruktur geschaffen und IT-Systemadministratoren eingestellt werden. Zudem müssen die Länder Sofortmaßnahmen zur digitalen Fortbildung der Lehrkräfte anbieten.
Für die Arbeitsplätze in den Schulen müssen Gefährdungsanalysen erstellt werden, um Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler besser zu schützen.
Transparenz schaffen: Kultusministerien und Kultusministerkonferenz müssen zügig ihre Planungen umsetzen, wöchentlich Statistiken auf Bundes-, Landes- und Schulebene über die Zahl der infizierten sowie der in Quarantäne geschickten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler zu veröffentlichen. „Wir brauchen eine realistische Datenbasis, um vor Ort über konkrete Maßnahme zu entscheiden“, sagte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. 

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.

„Da sind wir echt schlecht“

Kai Maaz wünscht sich darüber hinaus eine engere Verzahnung und Kooperation zwischen Wissenschaft, Politik und schulischer Praxis. Dem schloss sich die Kultusministerin Schleswig-Holsteins Karin Prien (CDU) an: „Politik muss mehr auf die Wissenschaft hören. Die aber muss uns nicht nur sagen, wo es hakt, sondern muss auch wirksame Instrumente liefern.“ Die frühkindliche Bildung sei dabei ein besonderes Betätigungsfeld. Prien: „Da sind wir echt schlecht.“

Dario Schramm (Bundesschülerkonferenz) forderte mit Hinweis auf die genannten möglichen Stellschrauben: „Bildung sollte kostenlos sein und da, wo Fördermittel existieren, sollte die Beantragung unbürokratischer werden.“

Einigkeit herrschte in einer dritten Gesprächsrunde: Deutschland benötigt eine staatliche Ausbildungsgarantie! Eine solche existiert in Österreich seit 23 Jahren. Sonja Schmöckel (Bundesministerium für Arbeit, Wien) sprach von einem Erfolgsmodell. Sie machte deutlich, dass die überbetriebliche Ausbildung keinen Verdrängungsmechanismus für die betriebliche Ausbildung auslöse: „Nur, wer auf dem ersten Lehrstellenmarkt nichts findet, kommt in die überbetriebliche Ausbildung.“ Clemens Wieland (Bertelsmann-Stiftung) betonte: „„Wir könnten mit der Garantie 20.000 zusätzliche Fachkräfte gewinnen.“ Für Jan Krüger (DGB) steht fest: „Wir wollen Menschen nicht in die Ausbildungslosigkeit entlassen. Darum würden wir das Modell Österreichs gerne übernehmen und damit Jugendlichen einen Einstieg in einen anerkannten Ausbildungsberuf ermöglichen.“

Für die Kitas verlangt die GEW, die individuellen Gefährdungsbeurteilungen nach Arbeitsschutzgesetz umzusetzen. Jede Kita braucht passgenaue und wirksame Hygienepläne. „Die Regelungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) für Kitas zum Infektionsschutz sind zu beachten und umzusetzen. Weiter müssten alle Kitaträger Betriebsmediziner einsetzen, diese sollten die Risikogruppen bei den Beschäftigten beraten und im Einzelfall von der Arbeit in der Kita freistellen“, sagte GEW-Chefin Marlis Tepe. Sie regte zudem an, freiwillige, kostenfreie Coronatests sowie eine Grippeschutzimpfung für die Beschäftigten anzubieten.

  • Freiwillige, kostenfreie Coronatests sowie eine Grippeschutzimpfung für die Beschäftigten
  • Passgenaue und wirksame Hygienepläne für jede Kita
  • Umsetzung der Empfehlungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) an Kitas
  • Risikogruppen von Betriebsmedizinern beraten lassen und im Einzelfall von der Arbeit an der Kita freistellen

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.