Fotos: FECh, CONSTRAMET, Karol Oliva
Wer in Chile studieren will, muss entweder viel Geld haben oder sich verschulden. Nur Kinder reicher Eltern können sich in dem 17 Millionen Einwohner Land eine gute Ausbildung leisten. Die monatlichen Studiengebühren an den Hochschulen betragen zwischen 250 und 860 Dollar. Doch drei Viertel aller Chilenen müssen mit weniger als 700 Dollar im Monat über die Runden kommen. Das chilenische Bildungswesen ist überwiegend in privater Hand – eine Folge der neoliberalen Politik des verstorbenen Diktators Pinochets, der in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Gründung privater Schulen und Universitäten forciert und öffentliche Ausgaben für Bildung gekürzt hat. Nur noch ein Viertel der Kosten des Bildungswesens wird heute in Chile vom Staat finanziert - so wenig wie in keinem anderen OECD-Land. Drei Viertel der Kosten müssen Schüler und Studenten bzw. deren Eltern selbst tragen. Die Folge ist, dass Absolventen die Hochschulen mit durchschnittlich 60.000 Dollar Schulden verlassen.
Seit Mai 2011 nun protestieren Studierende, Schüler und Lehrkräfte in Chile gegen ein Bildungssystem, dass nicht nur die Armen ausschließt, sondern auch den Kindern der in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Mittelschicht die Perspektiven versperrt. Hochschulen wurden besetzt, Studenten traten in den Hungerstreik. Hunderttausende gingen in den vergangenen Monaten in der Hauptstadt Santiago de Chile und anderen Städten des Landes auf die Straße, um für Reformen im Bildungswesen, die Abschaffung der Studiengebühren und eine bessere Ausstattung staatlicher Schulen und Universitäten zu demonstrieren. Achtzig Prozent der chilenischen Bevölkerung unterstützen diese Forderungen. Die konservative Regierung unter Präsident Piñera gerät zunehmend unter Druck. Ende September hatte sie in einer kurzen Verhandlungsphase mit Vertretern der Studierenden versucht, den Protesten durch Zugeständnisse bei Studienkrediten und Stipendien die Spitze zu nehmen. Über deren wichtigste Forderungen - ein staatlich finanziertes und frei zugängliches Bildungswesen sowie ein Verbot der auf Gewinn ausgerichteten Privathochschulen – war sie jedoch nicht bereit zu verhandeln.
Seitdem eskalieren die Auseinandersetzungen. Immer wieder kam es in den vergangenen Wochen zu Straßenschlachten mit der Polizei, die mit großer Härte und Massenverhaftungen gegen die Demonstranten vorgeht. Noch kurz vor Weihnachten waren in Santiago de Chile und in der Hafenstadt Valparaíso bei Zusammenstößen von Demonstranten und Sicherheitskräften dreißig Personen verletzt worden. Die Zustimmungswerte für Staatspräsident Piñera befinden sich inzwischen auf einem Tiefpunkt. Nur noch ein Viertel der Chilenen ist mit der Arbeit ihres Staatsoberhauptes zufrieden. Ende Dezember musste dessen Bildungsminister Felipe Bulnes nach nur sechs Monaten im Amt zurücktreten. Er hatte sich für eine harte Haltung gegenüber den Forderungen der Demonstranten eingesetzt und wurde für die zunehmende Gewalt verantwortlich gemacht. Auch sein Nachfolger, der Wirtschaftsingenieur Harald Beyer, lehnt eine kostenlose staatliche Bildung für alle ab. Stattdessen erregte er gleich neuen Unmut mit der Forderung, in Schulbüchern das Wort "Diktatur" für die Zeit des Pinochetregimes nicht mehr zu verwenden. Für das neue Jahr haben die Studenten weitere Proteste angekündigt.
Auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft werden die chilenischen Studentenvertreterinnen Camila Vallejo und Karol Oliva und der Gewerkschafter Jorge Murúa Saavedra vom 27. Januar bis 8. Februar zu Besuch in Deutschland sein, um auf Veranstaltungen in Dresden, Frankfurt, Würzburg, Bremen, Hamburg, Braunschweig, München und Berlin über ihre Kämpfe und Forderungen für ein sozial gerechtes Bildungswesen in Chile zu berichten.