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Rassismus

„Chemnitz hat Angst!“

Die einen fürchten Neonazis. Die anderen fühlen sich unwohl, wenn sie abends zugewanderten Männern begegnen. Diese Spaltung macht in Chemnitz auch vor Schülerinnen und Schülern nicht Halt. Eine Herausforderung für die politische Bildung.

Anti-Rassismus-Aktionstage am Schmidt-Rottluff-Gymnasium in Chemnitz / Foto: Sebastian Willnow

Sie weint. Die Elftklässlerin in der weiß-grünen Bluse ist offenbar tief verletzt. „Würdest du sagen, wer beim Trauermarsch dabei war, weil ein Freund getötet wurde, ist ein Nazi?“, fragt sie ihren Mitschüler aus der 12. Der junge Mann, offenes Gesicht, schwarzes T-Shirt, hatte eben in der Schul-Aula erklärt: Er habe kein Verständnis, „wenn sich Bürger auf einer Demo neben Leute stellen, die den Hitlergruß zeigen“.

Hochemotional geht es zu in der Aula des Karl-Schmidt-Rottluff-Gymnasiums in Chemnitz. Dass der Chemnitzer Daniel Hillig erstochen wurde, mutmaßlich von einem arabischen Mann, liegt wenige Wochen zurück. Neonazis, Pegida und AfD marschierten auf. Ausländisch aussehende Menschen wurden angegriffen, Rechtsextreme randalierten vor einem jüdischen Restaurant und verletzten den Inhaber. Linke, kirchliche und bürgerliche Kreise organisierten Gegendemonstrationen. Selbst die New York Times berichtete. 

Toleranz üben

Ronald Langhoff, Schulleiter des Rottluff-Gymnasiums, ließ sich etwas einfallen, damit die Schülerschaft miteinander ins Gespräch kommt – und gleichzeitig Toleranz übt. „Wir alle sind Chemnitz! Wofür steht unsere Stadt?“ Unter diesem Motto versammeln sich die Jahrgangsstufen 11 und 12 in der Aula, dazu etliche Lehrkräfte. Zuvor hatten die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe Gelegenheit, Thesen auf Zettel zu schreiben, die anonym in einem Kasten gesammelt wurden. Schulleiter Langhoff und ein Gast, der Chemnitzer Pfarrer Stephan Brenner, lesen die Thesen vor, die Anwesenden stimmen per Handzeichen ab, über welche Aussagen sie diskutieren möchten. 

Eine These lautet: „Zeckengefahr in Chemnitz!“ „Zecke“ – ein Kampfbegriff, mit dem Rechtsradikale Linke verunglimpfen. Neun Schüler möchten darüber diskutieren. Nächste These: „Zu schnell glauben Leute, was in den Medien geschrieben steht.“ Viele Hände gehen hoch. „Chemnitz hat Angst!“ Diese Aussage stößt auf besonders großen Zuspruch. „Für uns Mädchen ist es gefährlich geworden in der Stadt“, sagt eine Schülerin und nennt als Beispiel die Zentralhaltestelle. „Da hängen vor allem Ausländer rum.“ Alle hören zu, niemand unterbricht. Ein Mitschüler meldet sich. Auch er habe Angst, allerdings vor den „sehr Deutschen“. Er berichtet von einer Demonstration, bei der seine Gruppe „von 20 Leuten überfallen“ wurde. Einer habe „Adolf Hitler“ geschrien, eine Fahne und ein Schild seien gestohlen worden. Wieder hören alle zu. 

„Dass der Dialog geführt wird, ist logisch. Letztendlich sind es Jugendliche, die kann man nicht allein lassen.“ (Angelika Haase)

Die Versammlung in der Aula ist Teil des „Antirassismus-Tags“ am Rottluff-Gymnasium. Ein Tag, der unabhängig von den schrecklichen Ereignissen geplant war. Klassenstufe 10 beschäftigt sich mit „Flucht, Asyl, Migration“. Die Siebtklässler nehmen am „Afrika-Projekt“ teil, mit Trommelkurs. Das Seminar der 9b heißt: „Das wird man wohl noch sagen dürfen!“ Es geht um Rassismus, Antisemitismus, Ausgrenzung behinderter Menschen und Sexismus. Zwei externe Teamer – Franziska, 21 Jahre, und Alex, 31 – sorgen für Disziplin: „Bitte leise sein! Hier kommen coole Sachen!“ Schülerin Helene präsentiert der Klasse gerade eine frauenfeindliche Werbeanzeige. Beworben wird eine „Männer-Bratwurst“ – „deftig, kräftig gewürzt“, daneben das Foto einer jungen Frau, aufreizend gekleidet, mit Teufelshörnern. Helene ist der Meinung, die Werbung vermittle die Botschaft „Frauen sind zu nichts gut, außer zum Putzen und zum Sex“. „Ja, ist doch so“, findet ein Mitschüler – und zieht heftigen Protest der 14- und 15-jährigen Mädchen auf sich: „Du bist widerlich!“ Beide Teamer schauen zu – die Klasse soll lernen, den Vorfall unter sich zu klären. 

Was bringen „Antirassismus-Tage“ und ähnliche Projekte? „Es kommt auf die Stetigkeit an“, erklärt Angelika Haase, Lehrerin und Vorsitzende des GEW-Kreisverbandes Chemnitz-Stadt. Nicht sinnvoll sei, „dass da ein Ereignis stattgefunden hat, und man jetzt was macht“. Es gelte zudem, „immer wieder neue Varianten zu finden“. Haase empfiehlt grundsätzlich, Externe einzuladen, Migrantinnen und Migranten, Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaft, Sport, Kultur, Politik. „Wenn man viele Sachverhalte in die Schule holt, wächst das Verständnis für die Umwelt“, betont die 60-Jährige. Und wie können Schulen auf rechtsradikale Jugendliche zugehen? Haase hat die Erfahrung gemacht, „dass sich solche Schüler im Unterricht nicht outen“. „Man muss hellhörig sein“, fordert die Pädagogin. „Dass der Dialog geführt wird, ist logisch. Letztendlich sind es Jugendliche, die kann man nicht allein lassen.“ 

„Häufig fehlt es den Lehrkräften im Umgang mit solchen Konfliktsituationen an Sicherheit.“ (Robert-Bosch-Stiftung)

Wie Schulen auf „rechtsoffene“ Schülerinnen und Schüler reagieren können, das gehört zum Beratungsspektrum des Dresdner Vereins „Courage – Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit e. V.“. Er ist Mitglied im bundesweiten „Netzwerk für Demokratie und Courage“*. Auf Anfrage kommen „Courage“-Berater an die Schule, das Angebot ist kostenlos. An Rechtsextremisten richtet sich ein Aussteigerprogramm des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Das BfV bietet Beratung auch für Eltern und vermittelt schulische Qualifizierungsmaßnahmen. Viele weitere Angebote dienen der Prävention. Deren Reichweite ist allerdings begrenzt. Beispiel „Arbeit und Leben Sachsen e. V.“: Lediglich zehn Festangestellte kümmern sich landesweit um politische Bildung, inklusive Jugendbildung. Hinzu kommen „punktuell weitere professionelle Fachkräfte als freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, berichtet Stefan Grande, Fachbereichsleiter in der Leipziger Zentrale. Finanziert werde die Arbeit des Vereins zu einem großen Teil aus Projektfördermitteln der Europäischen Union, des Bundes, des Freistaates Sachsen und der Kommunen. Folge: Vor allem ehrenamtliche Teamerinnen und Teamer – 25 bis 30 in Sachsen – leiten die Projekttage, Workshops und Seminare an den Schulen. „In der Regel Studierende“, so Grande, die eine zweitägige Grundausbildung plus Hospitation und weitere Schulungen durchlaufen haben. 

Ein Modellprojekt speziell für sächsische Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen hat die TU Dresden entwickelt. Titel: „Starke Lehrer – starke Schüler“. Bis 2018 konnten sich Lehrerinnen und Lehrer drei Jahre lang coachen lassen, wie sie auf rechtsradikale Jugendliche zugehen können. „Häufig fehlt es den Lehrkräften im Umgang mit solchen Konfliktsituationen an Sicherheit“, urteilt die Robert-Bosch-Stiftung, die das Projekt gemeinsam mit dem Sächsischen Kultusministerium förderte. Wieder bleibt die Reichweite übersichtlich: Gerade mal 25 Lehrkräfte aus neun Berufsschulzentren nahmen teil. Professor Peter Fauser, emeritierter Schulforscher der Uni Jena, urteilt denn auch: Demokratiepädagogik an Schulen gebe es lediglich „in homöopathischen Dosen“ – und das bundesweit. 

Zurück in die Aula des Rottluff-Gymnasiums. Eine Lehrerin sagt, sie habe den Eindruck, dass sich viele Medien nicht trauen, etwas „gegen den extremen Islam, gegen Fundamentalismus im Christentum“ zu schreiben. Deshalb wählten viele die AfD – weil die angeblich mutig ist und Unangenehmes ausspricht. Eine Schülerin beklagt die fehlende Dialogfähigkeit. Im rechten wie im linken Lager herrsche die Haltung vor: „Ich weiß, dass ich recht habe und habe es gar nicht nötig, mit euch zu reden.“ Sie nennt das Arroganz. Ein Schüler bestätigt: „Ich war auf allen Demos gegen rechts.“ Wenn er allerdings zeige, dass er die andere Meinung akzeptiere, dann „gibt es sofort starken Widerspruch“. 

Und Schulleiter Langhoff? Der Pädagoge bezieht in der Aula klar Position. Er sei der Meinung, „dass man sich mit Leuten, die den Hitlergruß zeigen, nicht in eine Reihe stellt“. Doch: „Menschen machen Fehler.“ Deshalb sei er bereit, jene zu entschuldigen, denen das einmal passiert ist. „Wer das aber regelmäßig macht, für den erlischt mein Verständnis.“ Nach 90 Minuten endet die Diskussion. Langhoff bittet zu überlegen, „ob und wie das Gespräch in der Schule weitergeführt wird“. Großer Applaus.