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Brücken in Masuren

Ein ungewöhnliches Projekt der GEW und der Lehrersektion der Gewerkschaft Solidarność baut seit 20 Jahren Brücken zwischen polnischen und deutschen Gewerkschaftsmitgliedern am herrlichen Gimsee in Masuren.

Zwanzig Jahre erfolgreiche Zusammenarbeit der GEW mit der NSZZ Solidarność

Auch in diesem Jahr trafen sich vom 27. Juli bis 9. August wieder 16 polnische und 16 deutsche GewerkschaftskollegInnen zum Lernen, Schwimmen, Laufen, Diskutieren in Nowa Kaletka, einem kleinen Dorf bei Olsztyn (Allenstein). Und damit die Verständigung erleichtert wurde, lernten vormittags alle  Kolleginnen und Kollegen auf drei Niveaus die jeweils andere Sprache kennen und übten im Tandem und natürlich während der Malzeiten deren Anwendung. Nachmittags und abends wurde ein buntes Fortbildungsprogramm angeboten, das zum Teil von den TeilnehmerInnen selbst gestaltet wurde. Schließlich sind wir alle LehrerInnen und bringen verschiedene Talente mit. So gab es einen Theaterworkshop, ein Chor wurde gegründet, bei Origami konnte man sich entspannen, Frühsport und Lauftraining begeisterten vor allem die Frühaufsteher, Volkstänze konnten erlernt werden. Neben diesen Gruppen fördernden Aktivitäten boten die TeilnehmerInnen auch Vorträge aus ihrer Arbeit an. So wurde über den Schüleraustausch zweier Förderschulen, über gemeinsames Arbeiten von Deutschen und polnischen SchülerInnen in der Gedenkstätte Stutthof, über den Unterricht für Sehbehinderte und ein Schulbuch für Grundschulunterricht im Fach Mathematik berichtet.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede erfahren

Ein Kollege der Jungen GEW berichtete  über die Tarifauseinandersetzungen, die die GEW und Verdi in Berlin geführt haben. Sehr bewegend war der Vortrag eines deutschen Kollegen, der über eine Flüchtlingsinitiative in seinem Heimatort berichtete. Ein Thema, das wir in Zukunft stärker diskutieren müssen, denn dort wurden die Differenzen in der Einschätzung diesseits und jenseits der Oder deutlich. Darüber hinaus konnten als Referentin Frau Professor Alicja Bortkiewicz vom Institut für Arbeitsmedizin der Universität  Łódź gewonnen werden, die über eine Studie zu den Arbeitsbedingungen bei polnischen Lehrern und Lehrerinnen berichtete. In der Diskussion stellten wir viele Gemeinsamkeiten mit der deutschen Situation fest. Unterschiede gibt es in der Bewertung der Arbeitszeit und im Gehalt. Ein polnischer Lehrer/eine Lehrerin kann von dem Lohn für 18 Unterrichtsstunden Normalarbeitszeit nicht angemessen leben und schon gar nicht als Alleinerziehende eine Familie ernähren. Die TeilnehmerInnen stellten fest, dass wir viel zu wenig voneinander wissen und das Thema Schulsystem und Arbeitsbedingungen von LehrerInnen im nächsten Jahr verstärkt diskutiert werden sollte.

Beim Thema Ukraine wurde Tacheles geredet

Eine zweite Referentin kam aus der Ukraine. Natalja Bunda berichtete bewegend über die Kriegssituation in ihrem Land, über die Betroffenheit auch im Westen der Ukraine, in der sie lebt. Jeder habe Kontakte zu jungen Soldaten, die in den Krieg ziehen müssten. Trotzdem lud sie uns in ihre Heimatstadt Lotzk ein und zeigte Bilder einer jungen, dynamischen Stadt mit zahlreichen Sehenswürdigkeiten. Dieser Kontrast irritierte viele TeilnehmerInnen. Im Anschluss an den Vortrag entspann sich eine hitzige Diskussion, in der „zum ersten Mal Tacheles geredet wurde“, wie es ein Teilnehmer ausdrückte, der schon mehrfach die  Akademie besucht hat. Die Einschätzungen von Krieg und Kriegsursachen gingen weit auseinander. Trotzdem haben es die Teilnehmer geschafft, konstruktiv zu bleiben, den anderen ernst zu nehmen, zuzuhören, wenn die polnischen KollegInnen von ihren auch aus der Geschichte begründeten Ängsten vor einem russischen Aggressor berichteten, und so führte der Streit zu einem Verständnis der anderen Seite, ohne einen Konsens herbeiführen zu können und zu wollen. Ein kollegialer Streit: Das ist erst möglich nach 20 Jahren Brücken bauen.

Von Ottawa nach Nowa Kaletka

Die besondere Bedeutung dieser deutsch-polnischen Gewerkschaftsbegegnung wurde auch in diesem Jahr durch den Besuch des Vorsitzenden der Lehrersektion der Solidarność, Ryszard Proksa, unterstrichen. Und Marlie Tepe, die Vorsitzende der GEW, kam sogar aus Ottawa vom Weltkongress der  Bildungsinternationale direkt nach Nowa Kaletka, dem kleinen Dorf am Gimsee! So konnte sie sich selbst ein Bild von der außergewöhnlichen Atmosphäre machen, die entsteht, wenn KollegInnen aus den beiden Lehrergewerkschaften 14 Tage lang gemeinsam lernen, nächtelang diskutieren und viel Spaß zusammen haben. Die TeilnehmerInnen haben nämlich nicht nur gelernt und gearbeitet, schließlich haben sie ihren Urlaub in Kaletka verbracht! Am Lagerfeuer wurde gesungen, Gedichte geschrieben und übersetzt, es wurde gepaddelt und getanzt.

Zertifikat über die erfolgreiche Teilnahme am Sprachkurs

Am Wochenende besichtigen wir Olsztyn und kamen in den Genuss eines Jazzkonzerts im Amfiteatr, direkt in der Innenstadt. In Pranie, dem Museum zum Gedenken an den Dichter Gałczynski, begegneten wir sogar Anna Dymna bei einer Lesung, einer der bekanntesten polnischen Schauspielerinnen, die uns ältere Deutsche sofort an Hanna Schygulla erinnerte. Nach 12 Tagen harter Arbeit, aber auch Zeiten der Erholung, wurde jedem Teilnehmer/jeder Teilnehmerin die erfolgreiche Teilnahme am Sprachkurs zertifiziert. So konnte dann am letzten Abend bei kaltem Buffet, mit Sketschen aus den Lerngruppen und ausgelassenem Tanzen gefeiert werden. In diesem Jahr wurde die Akademie großzügig vom Deutsch-Polnischen-Jugendwerk unterstützt. Daneben sind alle TeilnehmerInnen „ihren“ Gewerkschaften dankbar, die diese Begegnung durch ideelle, personelle und materielle Hilfe möglich machen. Das DPJW hat seine weitere Förderung bei einem Besuch in Kaletka zugesagt. Programmpläne für 2016 gibt es schon. Und das Haus Kłobuk am Gimsee hat uns für Ende Juli wieder fest eingeplant.