„Inklusion bietet für alle Beteiligten große Chancen – wenn die Rahmenbedingungen stimmen“, findet Holger Müller. Der Leiter einer Inklusionsklasse an der Bremer Gesamtschule „Oberschule am Barkhof“ hat gerade den Computerraum aufgeschlossen und seinen Fünftklässlern ein paar Matheaufgaben präsentiert. Es geht dabei vor allem ums Geld – ein Thema, das auch die Bremer Schulpolitik beherrscht. Denn der rot-grün regierte Stadtstaat ist extrem verschuldet. Trotzdem hat er 2009 als erstes Bundesland die Inklusion als Ziel ins Schulgesetz aufgenommen. 2010 startete die Umsetzung (s. E&W 11/2011).
In Müllers Klasse haben vier von 19 Kindern offiziell Förderbedarf: mal wegen ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, mal wegen Lern-, Sprach- oder Verhaltensbeeinträchtigungen (LSV), und ein Junge sitzt im Rollstuhl. Er mag nicht mit Lehrkräften reden, ist aber gut integriert. „Die Mitschüler“, berichtet Müller, „unterstützen ihn und akzeptieren seine Besonderheiten.“
Als Regelschullehrer ist der 28-Jährige für solche Fälle nicht ausgebildet. Die Zweitkraft, die ihn stundenweise unterstützt, sollte eigentlich eine Sonderpädagogin sein, steckt aber noch in der entsprechenden Weiterbildung. Und wenn sie krank ist, „dann haben wir Probleme, das aufzufangen“, sagt Petra Flügel. Die 58-Jährige ist derzeit die einzige ausgebildete Sonderpädagogin für die bisher zwei Inklusionsklassen an der „Oberschule am Barkhof“, einer Neugründung von 2011.
„ZuP-Leiterin“ – allein im Haus
Flügel darf sich „ZuP-Leiterin“ nennen. Denn an jeder Bremer Oberschule und jedem Gymnasium sitzt ein „Zentrum für unterstützende Pädagogik“ (ZuP), also ein Kompetenzpool aus Sonderpädagogik-Lehrkräften, die aus den bisherigen Förderzentren abgezogen wurden. Flügels ZuP besteht aus ihr selbst.
Dienstags geht die Sonderpädagogin als erstes in den gemeinsamen Spanischkurs der 6. Klassen. An den Gruppentischen arbeiten auch fünf LSV-Kinder. Fünf von 22 – das ist die vorgesehene Quote für Inklusionsklassen. Hier sitzen zusätzlich drei Kinder mit Hör- oder Sehproblemen. Sie zählen bei der Quote nicht mit, denn sie sind auf eigenen Wunsch hier; sie könnten auch spezielle Förderzentren besuchen, die dauerhaft als Alternative erhalten bleiben.
Wer die LSV-Kinder sind, ist für Außenstehende nicht zu erkennen. Sonderpädagogin Flügel und Spanischlehrerin Anja Haugke helfen jedem, der sie gerade braucht – egal, ob mit oder ohne Förderstatus. So soll es sein bei funktionierender Inklusion.
Aber die läuft noch nicht reibungslos. „Man hätte die Einführung besser vorbereiten sollen“, findet Flügel. Zwar gebe es seit Jahren Fortbildungen, aber diese seien anfangs fast nur von Sonderpädagoginnen und -pädagogen besucht worden. „Die Regelschullehrkräfte waren noch zu sehr mit den häufigen Umstrukturierungen im Bremer Bildungssystem beschäftigt.“ In der Tat eine Dauerbaustelle: Kaum waren die Haupt- und Realschulen zusammengelegt und die Orientierungsstufen abgeschafft worden, wurde 2009 ein Zwei-Säulen-Modell aus Gymnasien und Oberschulen (Gesamtschulen) eingeführt. Nur ein Jahr später ging es mit den ersten Inklusionsklassen los – und es werden immer mehr. Als die rot-grüne Koalition aus Sicht der damaligen Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper nicht genug Geld für die Inklusion und andere Aufgaben bereitstellte, trat die SPD-Politikerin 2012 aus Protest zurück.
Warum so hohes Tempo bei der Inklusion? Wegen des Elternwillens, sagt Detlef von Lührte, zuständiger Abteilungsleiter der heutigen Bildungssenatorin Eva Quante-Brandt (SPD). 2010 hatten die Eltern von behinderten Viertklässlern erstmals grundsätzlich freie Wahl, wie es ab der 5. Klasse weitergehen sollte: an Förderzentren oder in Regelschulen. Auf Anhieb entschieden sich 60 Prozent für Inklusion. Im nächsten Jahr waren es schon fast 90 Prozent. „Wenn das der allgemeine Wunsch ist“, sagt von Lührte, „versuchen wir natürlich, dem möglichst schnell nachzukommen.“
Knappe Personaldecke
Ein weiterer Kritikpunkt neben dem Tempo ist die knappe Personaldecke. Nicht nur Flügel und Müller wünschen sich für LSV-Inklusionsklassen eine möglichst kontinuierliche Doppelbesetzung, wie es sie bereits für Klassen mit geistig Behinderten gibt – und nicht nur 15 Wochenstunden. „Aber das kann sich kein Bundesland leisten“, meint die Inklusionsreferentin der Bildungsbehörde, Andrea Herrmann-Weide. Und es sei auch fachlich nicht notwendig.
Ein weiterer Wunsch vieler Lehrkräfte bleibt ebenfalls unerfüllt: Sie würden gerne mehr Entlastung bekommen für die aufwändigen Absprachen bei Doppelbesetzung. Die Behörde hält die bisherigen Planungsstunden, die für den Aufbau der Oberschulen und der Inklusion gewährt werden, für ausreichend. Dabei weiß Sonderpädagogin Flügel: „Das fordert einen sehr.“ Und nicht jede Lehrkraft sei dafür prädestiniert. „Man muss schon bereit sein, sich für andere Unterrichtsformen zu öffnen und sich in die Karten schauen zu lassen.“
Deshalb ist für Flügel klar: Nur Freiwillige sollten Inklusionsklassen übernehmen. Am Barkhof sei das so, in anderen Schulen nicht immer. Warum melden sich nicht genug? „Vielleicht, weil die Bedingungen nicht optimal sind.“